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Auf eine Zeit lebte eine Blutwurst und eine Leberwurst in Freundschaft, und die Blutwurst bat die Leberwurst zu Gast.
Wie es Essenszeit war, ging die Leberwurst auch ganz vergnügt zu der Blutwurst, als sie aber in die Haustür trat, sah sie allerlei wunderliche Dinge, auf jeder Stiege der Treppe, deren viele waren, immer etwas anderes, da war etwa ein Besen und eine Schippe, die sich miteinander schlugen, dann ein Affe mit einer großen Wunde am Kopf und dergleichen mehr.
Die Leberwurst war ganz erschrocken und bestürzt darüber, doch nahm sie sich ein Herz, trat in die Stube und wurde von der Blutwurst freundschaftlich empfangen.
Die Leberwurst hub an, sich nach den seltsamen Dingen zu erkundigen, die draußen auf der Treppe wären, die Blutwurst tat aber, als hörte sie es nicht, oder als sei es nicht der Mühe wert davon zu sprechen, oder sie sagte etwa von der Schippe und dem Besen:
„Es wird meine Magd gewesen sein, die auf der Treppe mit jemand geschwätzt hat,“ und brachte die Rede auf etwas anderes.
Die Blutwurst ging darauf hinaus und sagte, sie müsse in der Küche nach dem Essen sehen, ob alles ordentlich angerichtet werde, und nichts in die Asche geworfen.
Wie die Leberwurst derweil in der Stube auf und abging und immer die wunderlichen Dinge im Kopf hatte, kam jemand, ich weiß nicht, wer‘s gewesen ist, herein und sagte:
„Ich warne dich, Leberwurst, du bist in einer Blut- und Mörderhöhle, mach dich eilig fort, wenn dir dein Leben lieb ist.“
Die Leberwurst besann sich nicht lang, schlich zur Tür hinaus und lief, was sie konnte. Sie stand auch nicht eher still, bis sie aus dem Haus mitten auf der Straße war.
Da blickte sie sich um, und sah die Blutwurst oben im Bodenloch stehen mit einem langen, langen Messer, das blinkte, als wär’s frisch gewetzt, und damit drohte sie, und rief herab:
„Hätt ich dich, so wollt ich dich!“
Hintergründe zum Märchen „Die wunderliche Gasterei“
„Die wunderliche Gasterei“ (KHM 43a) ist ein Märchen der Brüder Grimm, das ursprünglich in der ersten und zweiten Auflage der Kinder- und Hausmärchen enthalten war, bevor es durch das Märchen „Frau Trude“ ersetzt wurde. Das Schreckmärchen fällt durch seine skurrile Darstellung von sprechenden Lebensmitteln auf, die menschenähnliche Handlungen ausführen. Hier sind einige Hintergründe zum Märchen:
Herkunft: Das Märchen stammt wahrscheinlich von Amalie Hassenpflug, einer Freundin der Brüder Grimm, die ihnen auch andere Geschichten für ihre Sammlung zukommen ließ. Es gibt jedoch keine genauen Aufzeichnungen über die tatsächliche Quelle der Geschichte.
Anthropomorphe Charaktere: Die Hauptfiguren des Märchens, die Leberwurst und die Blutwurst, sind anthropomorphe Lebensmittel, die sich wie Menschen verhalten. Solche Charaktere sind in der Märchenliteratur selten, geben aber einen interessanten Einblick in die Symbolik und den möglichen Kommentar über gesellschaftliche Themen oder menschliche Eigenschaften.
Thematische Verbindungen: Die Geschichte weist einige Parallelen zu anderen Märchen der Brüder Grimm auf, wie zum Beispiel zu „Der Räuberbräutigam“, „Fitchers Vogel“ und „Blaubart“. In diesen Geschichten kommt es ebenfalls zu einer Warnung vor einem gefährlichen Ort und drohenden Gefahren, die dann im Verlauf der Handlung in den Vordergrund treten.
Rezeption und Einfluss: Das Märchen „Die wunderliche Gasterei“ hatte eine gewisse Rezeption in der Literatur und wurde zum Beispiel von Georg Büchner in seinem Drama „Woyzeck“ zitiert. Diese Referenz zeigt, dass das Märchen trotz seiner Kürze und Skurrilität eine gewisse kulturelle Bedeutung hatte.
Streichung und Ersatz: In späteren Auflagen der Kinder- und Hausmärchen wurde das Märchen durch „Frau Trude“ ersetzt. Der genaue Grund für die Streichung ist nicht bekannt, könnte aber auf die verstörende und ungewöhnliche Natur der Geschichte zurückzuführen sein, die möglicherweise als ungeeignet für Kinder erachtet wurde.
Obwohl „Die wunderliche Gasterei“ ein weniger bekanntes Märchen ist, bietet es dennoch interessante Einblicke in menschliches Verhalten und universelle Themen wie Schadenfreude, Gerechtigkeit und Gier.
Interpretationen zum Märchen „Die wunderliche Gasterei“
Das Märchen „Die wunderliche Gasterei“ (KHM 43a) von den Brüdern Grimm ist ein Schreckmärchen, das verschiedene Interpretationsmöglichkeiten bietet. Hier sind einige mögliche Interpretationsansätze:
Warnung vor Fremden und Unbekanntem: Die Geschichte kann als Warnung vor unbekannten und potenziell gefährlichen Situationen gelesen werden. Die Leberwurst besucht die Blutwurst, die sie nicht gut kennt, und beobachtet seltsame Dinge, die ihr Angst machen. Ihre Furcht ist berechtigt, als sie herausfindet, dass die Blutwurst ihr Böses will. Diese Lesart vermittelt die Botschaft, dass man vorsichtig sein sollte, wenn man sich auf unbekanntes Terrain begibt oder sich mit Fremden einlässt.
Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Makabren: Die Geschichte behandelt auch Themen wie Tod und Gewalt, indem sie Lebensmittel als Protagonisten verwendet, die traditionell mit Schlachtung und Blut in Verbindung stehen. In diesem Sinne kann das Märchen als Darstellung der menschlichen Faszination für und Angst vor dem Tod und dem Makabren interpretiert werden.
Soziale und kulturelle Konflikte: Die Auseinandersetzung zwischen der Leberwurst und der Blutwurst könnte als Symbol für soziale oder kulturelle Konflikte gesehen werden. Die beiden Würste repräsentieren unterschiedliche Gruppen, Traditionen oder Klassen, deren Begegnung in einer gefährlichen und feindseligen Situation endet.
Vertrauen und Misstrauen: Eine weitere Interpretation des Märchens könnte sich auf die Themen Vertrauen und Misstrauen konzentrieren. Die Leberwurst vertraut zunächst der Blutwurst und folgt ihr in ihre Heimat. Dieses Vertrauen erweist sich jedoch als Fehler, als die Leberwurst vor der Blutwurst gewarnt wird und gerade noch entkommen kann. In diesem Sinne vermittelt das Märchen eine Botschaft, dass es wichtig ist, ein gesundes Misstrauen zu bewahren, um sich vor Gefahren zu schützen.
Skurrilität und Humor: Schließlich kann „Die wunderliche Gasterei“ auch als skurrile und humorvolle Geschichte gelesen werden, die die Grenzen des Fantastischen und des Grotesken auslotet. Die absurden Charaktere und Ereignisse können einfach als Unterhaltung oder als Parodie auf ernstere Märchen und ihre moralischen Botschaften gesehen werden.
Adaptionen zum Märchen „Die wunderliche Gasterei“
Obwohl „Die wunderliche Gasterei“ (KHM 43a) nicht zu den bekanntesten Märchen der Brüder Grimm gehört, hat es einige Aufmerksamkeit in der Literatur und in Adaptionen erhalten. Hier sind einige Beispiele für Adaptionen des Märchens:
Literatur: Annette Pehnts „Die wunderliche Gasterei“: Die deutsche Autorin Annette Pehnt veröffentlichte 2006 eine gleichnamige Adaption des Märchens in ihrer Kurzgeschichtensammlung „Die wunderliche Gasterei und andere Geschichten aus Grimm“. Die Geschichte spielt in einem Gasthaus, das von einer Blutwurst und einer Leberwurst geführt wird, und erzählt eine moderne und humorvolle Interpretation des Märchens. Georg Büchners „Woyzeck“: In diesem Drama von 1836 zitiert Büchner das Märchen, indem er den Satz „Morgen hol‘ ich der Frau Königin ihr Kind. Blutwurst sagt: komm Leberwurst!“ verwendet. Obwohl das Märchen in „Woyzeck“ nicht direkt adaptiert wird, zeigt die Referenz, dass das Märchen zu Büchners Zeit bekannt war und einen gewissen kulturellen Einfluss hatte.
Trickfilm: Der Trickfilm „Märchenallerlei – Die wunderliche Gasterei“: Im Jahr 2019 produzierte der deutsche Animationsfilmer Marc-Andreas Bochert einen Trickfilm mit dem Titel „Märchenallerlei – Die wunderliche Gasterei“, der auf dem Märchen basiert. Der Film vermittelt die Grundzüge der Geschichte, bleibt aber humorvoll und kindgerecht.
Hörspiele: Das Hörspiel „Die wunderliche Gasterei“: Das Märchen wurde auch als Hörspiel adaptiert und in verschiedenen Märchensammlungen veröffentlicht. Die Version von Europa Hörspiele (2009) erzählt die Geschichte in einem kindgerechten Ton, betont jedoch die unheimlichen Aspekte der Handlung und die Gefahr, der die Leberwurst ausgesetzt ist.
Theateradaptionen: Es gibt auch einige Bühnenadaptionen des Märchens, die die skurrile und humorvolle Seite der Geschichte betonen und sie für ein heutiges Publikum zugänglich machen. Beispiele sind lokale Theateraufführungen von Schulen und Amateuren, die das Märchen auf kreative Weise neu interpretieren.
Die Adaptionen von „Die wunderliche Gasterei“ variieren in ihrem Stil und ihrer Herangehensweise, zeigen aber das anhaltende Interesse an diesem ungewöhnlichen Märchen und seine Fähigkeit, auch nach Jahrhunderten noch unterhalten und inspirieren zu können.
Zusammenfassung der Handlung
„Die wunderliche Gasterei“ (KHM 43a) ist ein Schreckmärchen der Brüder Grimm. Die Handlung dreht sich um eine Leberwurst, die eine Blutwurst besucht. Während ihres Besuchs beobachtet die Leberwurst seltsame und beunruhigende Ereignisse im Haus der Blutwurst, wie zum Beispiel streitende Besen und Schaufeln sowie einen verletzten Affen. Die Blutwurst ignoriert diese Ereignisse und konzentriert sich stattdessen darauf, das Essen zuzubereiten.
Inmitten dieser seltsamen Situation warnt eine unbekannte Stimme die Leberwurst, dass sie sich in einer Mörderhöhle befindet. Die Leberwurst ergreift die Flucht, während die Blutwurst ihr mit einem Messer droht und durch ein Loch im Boden ruft: „Hätt ich dich, so wollt ich dich!“
Die Geschichte endet damit, dass die Leberwurst der Gefahr entkommt und die Blutwurst ihrer Rache beraubt wird. Dieses ungewöhnliche Märchen vermittelt eine Botschaft von Vorsicht und Misstrauen gegenüber unbekannten und potenziell gefährlichen Situationen.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
---|---|
Nummer | KHM 43a |
Aarne-Thompson-Uther-Index | ATU Typ 334 |
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 69.1 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 43.5 |
Flesch-Reading-Ease Index | 57.8 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 11.8 |
Gunning Fog Index | 12.6 |
Coleman–Liau Index | 11.5 |
SMOG Index | 11.8 |
Automated Readability Index | 12 |
Zeichen-Anzahl | 1.897 |
Anzahl der Buchstaben | 1.476 |
Anzahl der Sätze | 12 |
Wortanzahl | 318 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 26,50 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 54 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 17% |
Silben gesamt | 459 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,44 |
Wörter mit drei Silben | 27 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 8.5% |