Vorlesezeit für Kinder: 7 min
Es war ein Mann auf der Wanderschaft, der war aller Zehrung bar und allen Zehrgeldes und wusste nicht, wovon er in der nächsten Herberge die Zeche zahlen sollte. Und da kamen ihm böse Gedanken in den Sinn – wenn einer käme, der am Gelde etwas zu schwer trüge, so wollte er ihm wohl seine Last erleichtern. Und wo der Wald recht tief war, sah dieser Wanderer einen anderen Wanderer vor sich her gehen, beeilte seine Schritte und holte jenen bald ein – und sah, dass der, den er einholte, ein Jude war. Da dachte er gleich: Juden haben immer Geld – und schrie ihn an: »Jud! Gib mir auf der Stelle dein Geld, oder du musst sterben.«
»Soll mir Gott helfen!« sprach der Jude, »hab ich doch nicht mehr Geld als acht armselige Heller! Was tut Ihr damit? Wollt Ihr vor Gott die große Sünde begehen und einen Menschen totschlagen um acht Heller?«
»Jud, du lügst! Ohne Geld reist kein Mauschel. Heraus mit dem Gelde – oder – !«
»Wehe mir! Wehe geschrieen!« rief voll Angst der Jude. »Habe ich doch nicht mehr, als ich Euch sage!« Aber jener hörte schon nicht mehr in seiner tollen Raubsucht und schlug den armen Juden nieder, und dieser rief im Sinken: »Wehe geschrieen über dich, du Mörder! Die klare Sonne soll an den Tag bringen deine Missetat, das allsehende Auge des Firmamentes !«
Mit diesen Worten verschied der Jude, und nun suchte sein Mörder ihm alle Taschen aus, er fand aber nur ein kleines schlaffes Lederbeutelchen und darin in der Tat nicht mehr und nicht minder als acht rote Heller. Da war es ihm doch leid, dass er den schnöden Mord verübt – und als er in die Sonne sah, erschrak er, denn sie stand ganz blutrot – und er rannte eilend von dannen – im Walde aber sammelten sich die Rotkehlchen und trugen Blumen herbei und legten sie sanft auf das Angesicht des Erschlagenen, damit das Schrecknis der Menschheit nicht des Waldes heiligen Frieden störe. Der Mörder aber wanderte, so weit er nur vermochte, von jener Stelle fort und konnte nicht mehr in die Sonne sehen. Am andern Morgen war es ihm wie ein böser, böser Traum – aber der Traum verfolgte ihn lange, und die Sonne erinnerte ihn fort und fort an den Todesruf des erschlagenen Juden. Endlich ward er ruhiger in seinem Gemüte, arbeitete fleißig und gewann, da er sonst ein leidlicher Geselle war und sich sehr still und zurückhaltend hielt, die Neigung einer Meisterstochter, mit der er eine Zeitlang in glücklicher Ehe lebte. Nicht häufig dachte er mehr an seine Untat, nur vor der Sonne hatte er eine gewisse Scheu, doch fragte er sich endlich selbst: »Wie soll sie’s denn anfangen, die liebe Sonne, es an den Tag zu bringen? Der Jude ist längst vergessen, ich bin viele Meilen fern von jenem Lande – reden kann die Sonne nicht, schreiben kann sie auch nicht. Ich habe mich für nichts so lange vor ihr gefürchtet und geängstigt.«
Eines Morgens brachte die Frau ihrem Manne seine Tasse Kaffee; er goss einen Teil desselben aus der Obertasse in die Untertasse, und zufällig schien die Sonne hell hinein, da bildeten sich von der bewegten Flüssigkeit an der Stubendecke bewegte, zitternde Lichtkringel infolge der Abspiegelung, und des Mannes Blicke fielen zur Decke empor. Er glaubte, er sei allein, und sprach vor sich hin: »Meinst du Sonne, du könnest es an den Tag bringen, weil du dort hinauf die zitternden Kringel zeichnest?«
»Was soll die Sonne an den Tag bringen wollen, Mann?« fragte laut die Frau – und der Mann erschrak heftig. Lebhaft drang sie in ihn, es ihr zu sagen, als er stockte und nichts bekennen wollte. Aber die Frau ruhte nicht eher, bis er, nachdem sie das tiefste Schweigen ihm angelobt, ihr erzählte, dass er einst einen Juden im Walde erschlagen habe, der habe im Sterben gerufen: »Die klare Sonne soll an den Tag bringen deine Missetat, das allsehende Auge des Firmamentes!« und nun habe die Sonne doch nichts an den Tag gebracht; sie könne nichts als leuchten und wärmen und Kringel an der Wand oder an der Decke machen.
Die Frau hörte das, schauderte und schwieg; aber das unselige Geheimnis drückte ihr fast das Herz ab, beunruhigte sie Tag und Nacht, und stets aufs neue erinnerte sie die Sonne daran. Sie konnte es nimmermehr auf dem Herzen behalten, sie erzählte es unter dem heiligsten Siegel der Verschwiegenheit ihrer liebsten Freundin – diese trug es weiter, bald vernahmen es die Richter. Da wurde der Mörder festgenommen und gestand alsbald alles; er war recht froh, als es heraus war, und empfing, nachdem er zum Schwert verurteilt war, mit Fassung den Todesstreich. In derselben Stunde aber lief seine schwatzhafte Frau auf den Boden und knüpfte sich an einem Balken auf.

Hintergründe
Interpretationen
Analyse
„Sonnenkringel“ von Ludwig Bechstein ist ein düsteres Märchen, das eine moralische Lehre über die Konsequenzen von Untaten und die Unausweichlichkeit der Wahrheit vermittelt. Die Geschichte handelt von einem mittellosen Wanderer, der aus Verzweiflung einen jüdischen Reisenden überfällt und ermordet, in der Annahme, dieser trage viel Geld bei sich. Doch er findet lediglich acht Heller in den Taschen seines Opfers. Der Jude verflucht im Sterben den Mörder und ruft die Sonne als Zeugin an, die dessen Missetat ans Licht bringen solle.
Der Mörder lebt daraufhin in ständiger Angst vor der Sonne, bis er sich mit der Zeit beruhigt und eine Familie gründet. Dennoch bleibt die Sonne eine symbolische Bedrohung. Eines Tages, als die Sonne durch eine Kaffeetasse einen Kreis an die Zimmerdecke wirft, spricht er unbedacht über seine Schuld, die seine Frau mithört. Das unselige Geständnis lastet schwer auf ihr, bis sie es schließlich weitertratscht und es letztlich die Behörden erreicht.
Der ehemalige Wanderer wird für seinen Mord verurteilt und hingerichtet, während sich seine Frau aus Schuldgefühlen das Leben nimmt. Dieses Märchen zeigt die verheerenden Folgen von Verbrechen und Geheimnissen, während es gleichzeitig die Vorstellung stärkt, dass die Wahrheit trotz aller Bemühungen, sie zu verbergen, immer ans Licht kommen wird. Die Sonne symbolisiert dabei das unvermeidliche Aufdecken der Wahrheit, was zeigt, dass Untaten nicht ignoriert werden können.
„Sonnenkringel“ von Ludwig Bechstein ist ein eindringliches Märchen, das mehrere Interpretationen zulässt. Die Erzählung verwebt Motive von Schuld, Sühne und der Macht des Gewissens in einem moralischen Rahmen, der den Leser tief berühren kann. Hier sind einige unterschiedliche Interpretationen des Märchens:
Moralische Belehrung über Schuld und Reue: Die Geschichte zeigt, dass Schuld und ungesühnte Taten den Menschen verfolgen, unabhängig davon, wie lange oder wie weit man vor ihnen zu fliehen versucht. Der wandernde Mörder lebt in ständiger Angst vor Enthüllung und kann die Sonne, die symbolisch für Wahrheit und Gerechtigkeit steht, nicht ertragen. Die Sonne wird zum Symbol des Gewissens, das ihn ständig an seine Schuld erinnert, bis er schließlich seine Tat gestehen muss.
Kritik an Vorurteilen und Gewalt: Die anfängliche Handlung verdeutlicht die fatalen Folgen von Vorurteilen und Gewalt. Der Mörder handelt aus einem unreflektierten Stereotyp heraus („Juden haben immer Geld“) und begeht eine abscheuliche Tat, die auf falschen Annahmen basiert. Diese Interpretation kann als Warnung vor den Gefahren von Vorurteilen und Diskriminierung verstanden werden.
Die Unentrinnbarkeit der Wahrheit: Trotz der Versuche des Mörders, seine Tat zu verbergen, zeigt die Geschichte, dass die Wahrheit unaufhaltsam ans Licht kommt. Die „Sonnenkringel“ stehen symbolisch dafür, dass die Wahrheit, ähnlich wie das Licht, letztendlich ihren Weg findet, enthüllt zu werden.
Die zerstörerische Macht von Geheimnissen: Der Mörder schließt einen Pakt des Schweigens mit seiner Frau, der sich als verhängnisvoll erweist. Das unheilvolle Geheimnis belastet die Beziehung und die Frau so schwer, dass es letztlich zu ihrem Zusammenbruch führt. Dies zeigt, wie destruktiv Geheimnisse sein können, wenn sie nicht gelüftet werden.
Die Rolle von Frauen im Kontext der Wahrheit: Die Frau fungiert als Katalysator für die Enthüllung der Wahrheit. Ihre Unfähigkeit, das Geheimnis zu bewahren, wird zum Mittel, mit dem die Gerechtigkeit letztlich ihren Lauf nimmt. Dies kann als Kommentar zur Rolle der Frau in moralischen und sozialen Ordnungen gesehen werden, wobei die Geschichte eine ambivalente Haltung einnimmt: Sie ist sowohl die Übermittlerin der Wahrheit als auch diejenige, die unter der Last der Informationen zerbricht.
Bechsteins „Sonnenkringel“ untersucht tief gehende moralische Fragen und menschliche Schwächen und bleibt eine eindringliche Erzählung über die Unausweichlichkeit der Wahrheit und die lang anhaltenden Folgen schlechter Taten.
Die Erzählung „Sonnenkringel“ von Ludwig Bechstein bietet eine Fülle von Möglichkeiten für eine linguistische Analyse. Hier sind einige bemerkenswerte Aspekte, die in einer solchen Analyse berücksichtigt werden könnten:
Sprachliche Merkmale und Stil
Sprachebene und Wortwahl: Bechstein verwendet eine Sprache, die für die Zeit typisch ist, in der er schrieb (19. Jahrhundert). Begriffe wie „Zehrung“ und „Zehrgeldes“ sowie die Anrede „Jud“ spiegeln die historische und soziale Umgebung wider.
Direkte Rede und Erzählweise: Der Text enthält viel direkte Rede, die den Dialog zwischen den Charakteren lebendig macht. Diese Passagen vermitteln nicht nur die wörtlichen Aussagen der Figuren, sondern auch ihre Emotionen und Einstellungen.
Metaphern und Symbolik: Die Sonne spielt eine zentrale symbolische Rolle als allsehendes Gerechtigkeitselement, das die Wahrheit ans Licht bringen soll. Die „zitternden Lichtkringel“ auf der Decke sind eine starke Metapher für das Gewissen des Mörders und die Enthüllung der Wahrheit.
Syntax und Struktur: Der Satzbau bei Bechstein ist oft komplex mit verschachtelten Haupt- und Nebensätzen, was typisch für die Literatur seiner Zeit ist. Diese Struktur kann die Intensität und Dramatik der Erzählung steigern.
Thematische Analyse
Gewissen und Schuld: Der Text thematisiert das nagende Gewissen des Mörders, das durch die Sonne symbolisch personifiziert wird. Trotz der anfänglichen Flucht vor der Gerechtigkeit und den Selbsttäuschungen holt ihn seine Missetat ein.
Göttliche und natürliche Gerechtigkeit: Die Erzählung spürt einer moralischen Ordnung nach, die letztlich die Wahrheit ans Licht bringt, selbst wenn dies auf unerwartete Weise geschieht. Die Sonne wird als übernatürlicher Zeuge der Tat beschrieben.
Rolle von Gerüchten: Der Fluss von Informationen und wie Geheimnisse durch soziale Netzwerke verbreitet werden, ist ein zentrales Thema. Der Drang, ein Geheimnis weiterzuerzählen, führt letztlich zur Entdeckung der Wahrheit.
Moralische Botschaft: Die Geschichte endet mit der impliziten Lehre, dass böse Taten Konsequenzen haben, die schließlich ans Licht kommen, und dass Versuche, Schuld zu verbergen, vergeblich sind.
Sozio-historischer Kontext
Antisemitische Stereotype: Der Text enthält klare antisemitische Stereotype, wie den Glauben, dass Juden immer Geld haben, was eine kritische Betrachtung des gesellschaftlichen und historischen Kontexts der Erzählung erfordert.
Geschlechterrollen
Die Frau hat in der Geschichte eine doppelte Rolle: Sie entdeckt sowohl das Verbrechen als auch als Übermittlerin der Nachricht ungewollt die Enthüllung der Schuld ihres Mannes. Ihr Selbstmord am Ende könnte aus Scham oder Schuldgefühl geschehen.
Insgesamt lässt sich Bechsteins Werk sowohl als literarisches Kunstwerk als auch als Zeugnis seiner Zeit untersuchen, das tiefere Einblicke in die gesellschaftlichen Werte und Ängste des 19. Jahrhunderts bietet.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
---|---|
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 86.2 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 27.1 |
Flesch-Reading-Ease Index | 76.5 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 5.7 |
Gunning Fog Index | 7.1 |
Coleman–Liau Index | 10.5 |
SMOG Index | 9.2 |
Automated Readability Index | 5.8 |
Zeichen-Anzahl | 1.625 |
Anzahl der Buchstaben | 1.276 |
Anzahl der Sätze | 23 |
Wortanzahl | 286 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 12,43 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 42 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 14.7% |
Silben gesamt | 398 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,39 |
Wörter mit drei Silben | 25 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 8.7% |