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Es waren einmal eine Nachtigall und eine Blindschleiche, die hatten jede nur ein Auge und lebten zusammen in einem Haus lange Zeit in Frieden und Einigkeit.
Eines Tags aber wurde die Nachtigall auf eine Hochzeit gebeten, da sprach sie zur Blindschleiche: „Ich bin da auf eine Hochzeit gebeten und möchte nicht gern so mit einem Auge hingehen, sei doch so gut und leih mir deins dazu, ich bring dir’s morgen wieder.“ Und die Blindschleiche tat es aus Gefälligkeit.
Aber den anderen Tag, wie die Nachtigall nach Haus gekommen war, gefiel es ihr so wohl, dass sie zwei Augen im Kopf trug und zu beiden Seiten sehen konnte, dass sie der armen Blindschleiche ihr geliehenes Aug nicht wiedergeben wollte.
Da schwur die Blindschleiche, sie wollte sich an ihr, an ihren Kindern und Kindeskindern rächen. „Gehe nur,“ sagte die Nachtigall, „und such einmal:
Ich bau mein Nest auf jene Linden,
so hoch, so hoch, so hoch, so hoch,
da magst du’s nimmermehr finden!“
Seit der Zeit haben alle Nachtigallen zwei Augen und alle Blindschleichen keine Augen. Aber wo die Nachtigall hin baut, da wohnt unten auch im Busch eine Blindschleiche, und sie trachtet immer hinauf zu kriechen, Löcher in die Eier ihrer Feindin zu bohren oder sie auszusaufen.
Hintergründe zum Märchen „Von der Nachtigall und der Blindschleiche“
„Von der Nachtigall und der Blindschleiche“ ist ein ätiologisches Tiermärchen der Brüder Grimm, das ursprünglich in der ersten Auflage ihrer Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“ (KHM) von 1812 erschien. Die Geschichte wurde aus Thomas-Philippe Légiers „Traditions et usages de la Sologne“ (1808) entnommen und von Jacob Grimm ins Deutsche übersetzt.
Das Märchen ist ein Beispiel für eine ätiologische Geschichte, die versucht, die Herkunft oder Eigenschaften bestimmter Tiere zu erklären. In diesem Fall erklärt es, warum Blindschleichen keine Augen haben und unter den Nestern der Nachtigallen leben. Es zeigt auch das Motiv der Rache zwischen Tieren aufgrund eines gebrochenen Versprechens.
Die Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren, der Nachtigall und der Blindschleiche, die trotz ihrer Unterschiede in Frieden und Harmonie zusammenleben. Die Lautmalerei und der Gesang der Nachtigall, die im Originaltext und in der Übersetzung von Jacob Grimm hervorgehoben werden. Dieses Stilmittel findet sich auch in anderen Märchen der Brüder Grimm wie „Jorinde und Joringel“ oder „Vom Machandelbaum“.
Die Verwendung von Tiercharakteren, um menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen zu repräsentieren. Diese Technik wird in vielen traditionellen Märchen und Fabeln verwendet, um moralische oder pädagogische Botschaften zu vermitteln. Die Verbindung zur regionalen Kultur und den Volksglauben der Sologne, einer ländlichen Gegend im Zentrum Frankreichs. Légiers Werk, aus dem die Geschichte entnommen wurde, ist eine Sammlung von Traditionen und Bräuchen dieser Region, einschließlich der populären Vorstellung, dass Schlangen und Blindschleichen keine Augen haben.
Obwohl „Von der Nachtigall und der Blindschleiche“ nicht so bekannt ist wie einige der anderen Märchen der Brüder Grimm, bietet es einen interessanten Einblick in die Art von Geschichten, die zu ihrer Zeit populär waren, und in die Methoden, die sie bei der Sammlung und Übersetzung dieser Geschichten anwandten.
Interpretationen zum Märchen „Von der Nachtigall und der Blindschleiche“
Obwohl „Von der Nachtigall und der Blindschleiche“ nicht zu den bekanntesten Märchen der Brüder Grimm gehört, lassen sich einige Interpretationen und symbolische Bedeutungen in dieser Geschichte finden:
Gegenseitige Abhängigkeit und Vertrauen: Die Nachtigall und die Blindschleiche sind aufeinander angewiesen und teilen ein Auge miteinander. Dies kann als Symbol für Vertrauen und Zusammenarbeit in einer Gemeinschaft gesehen werden. Das gebrochene Vertrauen zwischen den Tieren führt zu einer Konfrontation und einem unausweichlichen Konflikt.
Gerechtigkeit und Vergeltung: Nachdem die Nachtigall das Auge der Blindschleiche nicht zurückgibt, schwört die Blindschleiche Rache und versucht fortan, die Eier der Nachtigall auszusaugen. Dieses Motiv der Vergeltung ist in vielen traditionellen Geschichten und Fabeln präsent und zeigt, dass das Brechen eines Versprechens oder eine ungerechte Handlung negative Konsequenzen haben kann.
Stärke durch Anpassung: Obwohl die Blindschleiche ihr Augenlicht verliert, findet sie trotzdem einen Weg, um zu überleben und sich an ihre neue Situation anzupassen. Dies könnte als eine Botschaft interpretiert werden, dass Anpassungsfähigkeit und Durchhaltevermögen wichtig sind, um Herausforderungen im Leben zu bewältigen.
Die Bedeutung der Lautmalerei: Die Lautmalerei im Gesang der Nachtigall und die bildhafte Sprache der Geschichte erzeugen eine poetische Atmosphäre. Diese Stilmittel könnten darauf hinweisen, dass die Brüder Grimm und ihre Zeitgenossen der mündlichen Erzähltradition große Bedeutung beimaßen und Märchen als lebendige Kunstform betrachteten.
Die Rolle der Natur: In „Von der Nachtigall und der Blindschleiche“ spielen die Natur und ihre Bewohner eine zentrale Rolle. Die Geschichte könnte daher als eine Aufforderung verstanden werden, die Natur und ihre Geheimnisse zu respektieren und schätzen.
Insgesamt bietet das Märchen „Von der Nachtigall und der Blindschleiche“ eine Fülle an Interpretationsmöglichkeiten. Die Geschichte vermittelt wichtige Botschaften über Vertrauen, Zusammenarbeit, Gerechtigkeit und Anpassungsfähigkeit und zeigt, dass es Konsequenzen gibt, wenn diese Werte missachtet werden.
Adaptionen zum Märchen „Von der Nachtigall und der Blindschleiche“
Da „Von der Nachtigall und der Blindschleiche“ (KHM 6a) ein weniger bekanntes Märchen der Brüder Grimm ist, gibt es nur wenige Adaptionen im Vergleich zu ihren berühmteren Geschichten. Allerdings können einige Beispiele von Adaptionen oder Interpretationen des Märchens gefunden werden:
Theater- und Puppenspiele: Einige Theatergruppen oder Puppenspielensembles haben das Märchen „Von der Nachtigall und der Blindschleiche“ in ihre Repertoires aufgenommen und es als Bühnenstück für Kinder oder Familien präsentiert. Diese Aufführungen könnten eine visuelle und interaktive Adaption der Geschichte bieten, indem sie die Figuren, Szenen und Motive zum Leben erwecken.
Musikalische Interpretationen: Das Märchen könnte als Grundlage für musikalische Kompositionen oder Liedtexte dienen, die den Gesang der Nachtigall und die Atmosphäre der Geschichte einfangen. Ein Beispiel hierfür könnte die „Kinder- und Hausmärchen“ des deutschen Komponisten Frank Schwemmer sein, die einige der weniger bekannten Märchen der Brüder Grimm in musikalischer Form interpretiert.
Bildende Kunst und Illustrationen: Künstler und Illustratoren haben sich möglicherweise von der Geschichte inspirieren lassen, um Bilder oder Skulpturen zu schaffen, die die Nachtigall, die Blindschleiche oder Szenen aus dem Märchen darstellen. Obwohl es keine weit verbreiteten oder berühmten Beispiele für solche Kunstwerke gibt, könnten lokale oder aufstrebende Künstler diese Geschichte als Inspirationsquelle nutzen.
Neufassungen und moderne Interpretationen: Autoren könnten „Von der Nachtigall und der Blindschleiche“ als Grundlage für eigene Geschichten oder Neufassungen verwenden, die die Handlung oder die Themen des Märchens aufgreifen und in einen neuen Kontext stellen. Beispiele für solche Neufassungen sind nicht weit verbreitet, aber Schriftsteller, die an der Wiederbelebung weniger bekannter Märchen interessiert sind, könnten diese Geschichte als Ausgangspunkt für ihre Arbeit verwenden.
Da „Von der Nachtigall und der Blindschleiche“ nicht zu den populärsten Märchen der Brüder Grimm gehört, ist die Anzahl der Adaptionen und konkreten Beispiele begrenzt. Trotzdem bietet die Geschichte Raum für kreative Interpretationen und Anpassungen in verschiedenen künstlerischen Bereichen.
Zusammenfassung der Handlung
In „Von der Nachtigall und der Blindschleiche“ von den Brüdern Grimm leben eine Nachtigall und eine Blindschleiche zusammen in Harmonie, wobei jedes Tier nur ein Auge besitzt. Eines Tages leiht sich die Nachtigall das Auge der Blindschleiche, um auf eine Hochzeit zu gehen. Nach der Feier gibt sie das Auge jedoch nicht zurück, was die Blindschleiche erzürnt und dazu führt, dass sie Rache schwört.
Die Nachtigall singt daraufhin, dass sie ihr Nest hoch in den Linden bauen werde, damit die Blindschleiche es niemals finden könne. Infolgedessen verlieren Blindschleichen ihre Augen und leben fortan unter den Nestern der Nachtigallen, um deren Eier auszusaugen. Das Märchen erklärt somit, warum Blindschleichen keine Augen haben und in der Nähe von Nachtigallennestern leben.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
---|---|
Nummer | KHM 6a |
Aarne-Thompson-Uther-Index | ATU 234 |
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 70.8 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 38.9 |
Flesch-Reading-Ease Index | 58.8 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 10.8 |
Gunning Fog Index | 11.1 |
Coleman–Liau Index | 12 |
SMOG Index | 11.8 |
Automated Readability Index | 12 |
Zeichen-Anzahl | 1.257 |
Anzahl der Buchstaben | 987 |
Anzahl der Sätze | 9 |
Wortanzahl | 206 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 22,89 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 33 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 16% |
Silben gesamt | 304 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,48 |
Wörter mit drei Silben | 20 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 9.7% |