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Der Krüppel
Grimm Märchen

Der Krüppel - Märchen von Hans Christian Andersen

Vorlesezeit für Kinder: 24 min

Es war einmal ein altes Schloss mit jungen, prächtigen Edelleuten. Reichtum und Segen hatten sie, amüsieren wollten sie sich, und Gutes taten sie. Alle Menschen wollten sie froh machen, so wie sie selber es waren. Am Weihnachtsabend stand ein prächtiger, wunderschöner Weihnachtsbaum im alten Rittersaal, wo Feuer in den Kaminen brannte und wo Tannenzweige um die alten Bilder gehängt waren. Hier versammelten sich die Herrschaft und die Gäste, es wurde gesungen und getanzt.

Früher am Abend war schon Weihnachtsfreude in der Gesindestube gewesen. Auch hier stand ein großer Tannenbaum mit brennenden roten und weißen Lichtern, kleinen Danebrogflaggen, ausgeschnittenen Schwänen und Fischernetzen, die mit Bonbons gefüllt waren. Die armen Kinder aus dem Dorfe waren eingeladen; jedes hatte seine Mutter mitgebracht. Die sahen nicht viel nach dem Baume hin, sie sahen nur nach den Weihnachtstischen, wo Wolle und Leinwand, Stoff zu Kleidern und Hosen lag. Ja, dahin sahen die Mütter und die erwachsenen Kinder, nur die ganz kleinen streckten die Hände nach den Lichtern, dem Flittergolde und den Flaggen aus.

Die ganze Versammlung kam früh am Nachmittag, bekam Reisbrei und Gänsebraten mit Rotkohl. Wenn dann der Tannenbaum besehen und die Gaben verteilt waren, bekam jeder ein kleines Glas Punsch und Apfelkuchen mit Apfelmus darin. Sie kamen heim in ihre eigene, arme Stube, und es wurde von „der guten Lebensweise“ geredet, das heißt, von den Eßwaren, und die Gaben wurden noch einmal ordentlich besehen. Da waren nun Garten-Kirsten und Garten-Ole. Wie waren miteinander verheiratet und hatten ihr Haus und ihr tägliches Brot, und dafür mussten sie im Schlossgarten jäten und graben. Jede Weihnachten bekamen sie ihren guten Anteil an den Geschenken. Sie hatten auch fünf Kinder, alle fünf wurden von der Herrschaft gekleidet. „Unsere Herrschaft, das sind wohltätige Leute!“ sagten sie. „Aber sie können es auch, und es macht ihnen Vergnügen!“

„Hier sind gute Kleider für die vier Kinder gekommen!“ sagte Garten-Ole. „Aber da ist ja nichts für den Krüppel. Den pflegen sie ja doch sonst auch zu bedenken, obwohl er nicht mit zum Tannenbaum kommen kann!“ Es war das älteste von den Kindern, das sie „den Krüppel“ nannten, er war sonst auf den Namen Hans getauft. Als kleines Kind war er das munterste und lebhafteste von ihnen allen, aber dann wurde er auf einmal „schlaff in den Beinen“, wie sie es nannten, er konnte weder stehen noch gehen und lag nun schon im fünften Jahr zu Bett. „Ja, etwas habe ich auch für ihn mitbekommen!“ sagte die Mutter. „Aber es ist ja nichts weiter, es ist nur ein Buch, worin er lesen kann!“

„Davon soll er auch wohl fett werden!“ sagte der Vater. Aber froh wurde Hans dadurch. Er war ein sehr aufgeweckter Knabe, der gern las, aber er benutzte auch seine Zeit zur Arbeit, soweit er, der immer zu Bett liegen musste, Nutzen schaffen konnte. Er machte sich mit seinen Händen nützlich, er brauchte seine Hände, strickte wollene Strümpfe, ja ganze Bettdecken. Die gnädige Frau auf dem Schlosse hatte sie gelobt und gekauft. Es war ein Märchenbuch, das Hans bekommen hatte. Darin war viel zu lesen, vieles, worüber er nachdenken konnte.

„Das schafft gar keinen Nutzen im Hause!“ sagten die Eltern. „Aber lasst ihn nur lesen, dann vergeht ihm die Zeit schneller, er kann ja nicht immer Strümpfe stricken!“ Der Frühling kam; Blumen und Kräuter begannen zu sprießen, auch das Unkraut. Es war viel zu tun im Schlossgarten, nicht nur für den Schlossgärtner und seine Lehrlinge, sondern auch für Garten-Kirsten und Garten-Ole. „Das ist eine furchtbare Mühe!“ sagten sie. „Und wenn man die Gänge eben geharkt hat und sie so recht hübsch gemacht hat, dann werden sie gleich wieder zertreten. Hier ist ein Ein- und Auswandern von Gästen auf dem Schloss. Was muss das kosten! Aber die Herrschaft ist ja reich!“

„Es ist doch sonderbar verteilt!“ sagte Ole. „Wir sind ja alle Kinder unseres lieben Gottes, wie der Pfarrer sagt. Warum dann solch ein Unterschied?“ – „Das kommt vom Sündenfall!“ sagte Kirsten. Darüber sprachen sie am Abend wieder, als der Krüppel-Hans mit seinem Märchenbuch da lag. Bedrängte Verhältnisse, Mühe und Arbeit hatten die Hände der Altern hart gemacht, aber sie waren auch hart in ihrem Urteil und ihren Ansichten geworden. Sie begriffen es nicht, konnten es sich nicht erklären und redeten und redeten sich nun immer mehr in Zorn und Missmut hinein. „Einige Menschen bekommen Wohlstand und Glück, andere nur Armut! Warum sollen wir für den Ungehorsam und die Neugier unserer ersten Eltern bestraft werden. Wir hätten uns nicht so betragen wie die beiden!“ – „Ja, das hätten wir!“ sagte auf einmal Krüppel-Hans. „Es steht alles zusammen hier in diesem Buch!“

„Was steht in dem Buch?“ fragten die Eltern. Und Hans las ihnen das alte Märchen von dem Holzbauer und seiner Frau vor: die schalten auch über die Neugier von Adam und Eva, die an ihrem Unglück schuld waren. Da kam der König des Landes vorüber. „Kommt mit mir nach Hause“, sagte er, „dann sollt ihr es ebenso gut haben wie ich: sieben Gerichte und ein Schaugericht. Das steht in einer geschlossenen Terrine, die dürft ihr aber nicht anrühren, denn dann ist es mit der Herrlichkeit vorbei!“

„Was kann doch in der Terrine sein?“ sagte die Frau. „Das geht uns nichts an!“ sagte der Mann. „Ja, ich bin nicht neugierig“, sagte die Frau, „ich möchte nur wissen, warum wir den Deckel nicht aufheben dürfen. Es ist wohl was ganz Delikates!“ – „Wenn nur nicht eine Mechanik dabei ist!“ sagte der Mann. „So ein Pistolenschuß, der knallt und das ganze Haus aufweckt.“ – „Ach was!“ sagte die Frau, rührte aber nicht an der Terrine. Aber des Nachts träumte sie, dass der Deckel selbst sich hebe und ein Duft vom feinsten Punsch, wie man ihn auf Hochzeiten und Begräbnissen bekommt, der Terrine entsteige. Es lag eine große silberne Münze da mit der Inschrift: „Wenn ihr von diesem Punsch trinket, so werdet ihr die Reichsten in der Welt, und alle anderen Menschen werden Bettler!“

Und dann erwachte die Frau, und sie erzählte ihrem Mann ihren Traum. „Du denkst zu viel an die Sache!“ sagte er. „Wir können ja mit Vorsicht den Deckel aufheben!“ sagte die Frau. „Ganz vorsichtig!“ sagte der Mann. Und die Frau hob den Deckel ganz vorsichtig auf. – Da sprangen zwei kleine lebendige Mäuse heraus und verschwanden in einem Mauseloch. „Gute Nacht!“ sagte der König. „Nun könnt ihr nach Hause gehen und euch in euer eigenes Bett legen. Scheltet nicht mehr auf Adam und Eva, ihr selber seid ebenso neugierig und undankbar gewesen!“

„Wie ist doch die Geschichte da in das Buch gekommen?“ sagte Garten-Ole. „Es ist ja ganz, als ob sie uns gelten sollte. Das ist so recht zum Nachdenken!“ Am nächsten Tage gingen sie wieder auf Arbeit. Sie wurden von der Sonne verbrannt und von dem Regen durchnäßt: in ihren Herzen waren zornige Gedanken, an denen sie fortwährend kauten. Es war noch heller Abend daheim, sie hatten eben ihren Milchbrei gegessen. „Lies uns noch einmal die Geschichte von dem Holzbauer vor“, sagte Garten-Ole.

„Da sind so viele hübsche Geschichten im Buch!“ sagte Hans. „So viele, die ihr noch nicht kennt!“ – „Darauf mache ich mir gar nicht!“ sagte Garten-Ole. „Ich will die hören, die ich kenne!“ Und er und die Frau hörten wieder dieselbe Geschichte. Und immer wieder kamen sie auf die Geschichte zurück. „So recht erklären kann ich mir das Ganze doch nicht!“ sagte Garten-Ole. „Es ist mit dem Menschen wie mit der süßen Milch, die gerinnt. Ein Teil davon wird feiner Käse, und aus dem anderen wird nichts als dünne, wässerige Molke! Einige Leute haben Glück in allem, sitzen alle Tage an der Festtafel und kennen weder Sorge noch Mühe!“

Das hörte der Krüppel-Hans. Wohl war er schlaff in den Beinen, aber er war klug. Er las ihnen die Geschichte von „dem Mann ohne Kummer und Sorge“ aus dem Märchenbuch vor. Ja, wo war der zu finden, und gefunden werden musste er. Der König lag krank danieder und konnte nur geheilt werden, wenn er das Hemd anbekam, das von einem Menschen getragen und auf dem Körper verschlissen war, der in Wahrheit sagen konnte, dass er niemals Kummer und Sorge gekannt hatte. Boten wurden in alle Länder der Welt entsandt, auf alle Schlösser und Rittergüter, zu allen wohlhabenden und frohen Menschen; aber wenn man sie richtig ausfragte, so hatte doch jeder von ihnen Sorge und Kummer kennengelernt.

„Ich habe sie nicht kennengelernt!“ sagte der Schweinehirt, der am Grabenrand saß, lachte und sang. „Ich bin der glücklichste Mensch!“ – „Dann gib uns dein Hemd“, sagten die Botschafter, „du sollst es mit einem halben Königreich bezahlt bekommen.“ Aber er hatte kein Hemd – und nannte sich doch den glücklichsten Menschen. „Das war ein famoser Kerl!“ rief Garten-Ole, und er und seine Frau lachten, wie sie seit Jahr und Tag nicht gelacht hatten. Da kam der Schullehrer vorbei.

„Wie vergnügt ihr seid!“ sagte er. „Das ist etwas Seltenes und Neues hier im Hause. Habt ihr in der Lotterie gewonnen?“ – „Nein, so was ist es nicht!“ sagte Garten-Ole. „Aber Hans hat uns aus dem Märchenbuch vorgelesen. Er las von dem „Mann ohne Kummer und Sorge“, und der Kerl hatte gar nicht mal ein Hemd. Einem geht ein helles Talglicht auf, wenn man so was hört, und noch dazu aus einem gedruckten Buch. Jeder hat wohl seine Last zu ziehen. Man ist wohl nicht der einzige. Das ist doch immer ein Trost!“

„Wo habt ihr das Buch her?“ fragte der Schullehrer. „Das hat Hans vor mehr als einem Jahr zu Weihnachten bekommen. Die Herrschaft hat es ihm geschenkt. Sie wissen, dass er so gern lesen mag, und er ist ja ein Krüppel! Wir hätten es damals lieber gesehen, wenn er zwei Hemden aus Wergleinwand bekommen hätte. Aber das Buch ist sonderbar, das kann einem wirklich auf alle Gedanken antworten!“

Der Schullehrer nahm das Buch und öffnete es. „Wir wollen dieselbe Geschichte noch einmal hören!“ sagte Garten-Ole. „Ich weiß sie noch nicht richtig. Und dann muss er auch die von dem Holzbauer vorlesen!“ Die beiden Geschichten waren und blieben genug für Ole. Sie waren wie zwei Sonnenstrahlen in der armen Stube, in den niederdrückenden Gedanken, die sie verdrießlich und unzufrieden machten. Hans hatte das ganze Buch gelesen, viele Male gelesen. Die Märchen trugen ihn in die Welt hinaus, wohin ihn die Beine nicht tragen konnten.

Der Schullehrer saß an seinem Bett. Sie sprachen zusammen, und das war ein Vergnügen für die beiden. Seit dem Tage kam der Schullehrer öfter zu Hans, wenn die Eltern auf Arbeit waren. Es war wie ein Fest für den Jungen, jedesmal wenn er kam. Wie lauschte er dem, was der alte Mann erzählte, von der Größe der Erde und von den vielen Ländern, und dass die Sonne noch fast eine halbe Million mal größer sei als die Erde und so weit entfernt, dass eine Kanonenkugel in voller Eile fünfundzwanzig ganze Jahre von der Sonne bis zur Erde braucht, während die Lichtstrahlen die Erde in acht Minuten erreichen können.

Hierüber weiß nun jeder tüchtige Schuljunge Bescheid, aber für Hans war das alles neu und noch viel wunderbarer als alles, was in dem Märchenbuch stand. Der Schullehrer kam ein paarmal im Jahr an die Tafel der Herrschaft, und bei einer solchen Gelegenheit erzählte er, welche Bedeutung das Märchenbuch in dem armen Haus erlangt habe und wie allein die zwei Geschichten zur Erweckung und zum Segen geworden seien. Der schwächliche, kleine Junge habe durch das Lesen Nachdenken und Freude ins Haus gebracht.

Als der Schullehrer sich verabschiedete, drückte ihm die Schlossherrin ein paar blanke Silbertaler in die Hand für den kleinen Hans. „Die müssen Vater und Mutter haben!“ sagte der Junge, als der Schullehrer ihm das Geld brachte. Und Garten-Ole und Garten-Kirsten sagte: „Der Krüppel-Hans ist doch zum Nutzen und Segen!“ Ein paar Tage später, die Eltern waren auf Arbeit im Schlossgarten, hielt der herrschaftliche Wagen draußen vor dem Hause. Es war die herzensgute Schlossherrin, die kam, erfreut darüber, dass ihr Weihnachtsgeschenk zu einem solchen Trost und so viel Freude für den Knaben und die Eltern geworden war.

Sie brachte feines Brot, Obst und eine Flasche süßen Saft mit; aber was noch schöner war, sie brachte ihm in einem vergoldeten Bauer einen kleinen schwarzen Vogel, der ganz allerliebst flöten konnte. Das Bauer mit dem Vogel wurde auf die alte Kommode gesetzt, ein wenig von dem Bett des Knaben entfernt. Er konnte den Vogel sehen und seinen Gesang hören. Ja, die Leute, die auf der Landstraße vorüberkamen, konnten den Gesang hören.

Garten-Ole und Garten-Kirsten kamen erst nach Hause, nachdem die gnädige Frau wieder weggefahren war, sie merkten, wie froh Hans war, aber sie fanden doch, dass das Geschenk nur Mühe machte. „Reiche Leute denken nicht recht nach!“ sagten sie. „Sollen wir nun auch auf den Vogel aufpassen. Der Krüppel-Hans kann es ja nicht. Das Ende wird noch sein, dass ihn die Katze frisst!“

Es vergingen acht Tage, und noch acht Tage vergingen. Die Katze war während der Zeit manchmal in der Stube gewesen, ohne den Vogel zu erschrecken, geschweige denn, ihm etwas zuleide zu tun. Dann ereignete sich etwas sehr Großes. Es war am Nachmittag, die Eltern und die anderen Kinder waren auf Arbeit gegangen, Hans war ganz allen. Er hatte das Märchenbuch in der Hand und las von der Frau des Fischers, der sämtliche Wünsche erfüllt wurden. Sie wolle König sein, das wurde sie. Sie wollte Kaiser sein, das wurde sie; aber dann wollte sie der liebe Gott sein – und dann saß sie wieder in dem Morast, aus dem sie gekommen war.

Die Geschichte stand nun in gar keinem Zusammenhang mit dem Vogel oder der Katze, aber es war gerade die Geschichte, die er las, als das Ereignis eintraf, das er nie wieder vergessen sollte. Das Bauer stand auf der Kommode, die Katze stand auf dem Fußboden und sah starr mit ihren grüngelben Augen zu dem Vogel hinauf. Da war etwas im Gesicht der Katze, als wolle sie zu dem sagen: „Wie bist du reizend, ich möchte dich wohl auffressen!“

Das konnte Hans verstehen. Er las es ganz deutlich aus dem Gesicht der Katze. „Weg, Katze!“ rief er. „Willst du wohl machen, dass du aus der Stube hinauskommst!“ Es war, als schickte sie sich an, zu springen. Hans konnte sie nicht erreichen, hatte nichts anderes, womit er nach ihr werfen konnte, als seinen liebsten Schatz, das Märchenbuch. Das warf er denn auch, aber der Einband löste sich, flog nach der einen Seite, und das Buch selber mit allen seinen Blättern flog nach der anderen Seite. Mit langsamen Schritten ging die Katze ein wenig in das Zimmer zurück und sah Hans an, als wollte sie sagen: „Mische du dich nicht in diese Sache, kleiner Hans! ich kann gehen, und ich kann springen, du kannst nichts von beidem!“

Hans behielt die Katze im Auge und war in großer Unruhe. Der Vogel wurde auch unruhig. Kein Mensch war da, den er hätte rufen können. Es war, als wüsste die Katze das. Sie schickte sich wieder an, zu springen. Hans schlug mit seiner Bettdecke nach ihr, die Hände konnte er gebrauchen; aber die Katze kehrte sich nicht an die Bettdecke. Und als auch die nutzlos nach ihr geworfen war, sprang sie in einem Satz auf den Stuhl hinauf und in den Fensterrahmen hinein, hier war sie dem Vogel näher.

Hans konnte sein eigenes warmes Blut im seinem Körper spüren, aber daran dachte er nicht. Er dachte nur an die Katze und an den Vogel. Allein konnte er ja nicht aus dem Bett herauskommen. Auf den Beinen konnte er nicht stehen, nach weniger konnte er gehen. Es war, als ob sich ihm das Herz im Leibe umdrehe, als er die Katze von dem Fensterbrett gerade auf die Kommode hinüberspringen und an das Bauer stoßen sah, so dass es herunterfiel. Der Vogel flatterte ängstlich dadrinnen.

Hans stieß einen Schrei aus, ein Schrecken durchlief ihn, und ohne daran zu denken, sprang er aus dem Bett, auf die Kommode zu, riss die Katze herunter und hielt das Bauer fest, in dem der Vogel in Todesangst umherflatterte. Er hielt das Bauer in der Hand und lief damit zur Tür hinaus auf die Landstraße. Da rollten ihm die Tränen über die Wangen. Er jubelte und rief ganz laut: „Ich kann gehen! Ich kann gehen!“ Er hatte seine Beweglichkeit wieder bekommen. So etwas kann geschehen, und bei ihm geschah es.

Der Schullehrer wohnte ganz in der Nähe, und zu ihm lief er auf seinen nackten Füßen, nur in Hemd und Jacke und mit dem Vogel in dem Bauer. „Ich kann gehen!“ rief er. „Herr, mein Gott!“ Und er schluchzte vor lauter Freude. Und Freude ward im Hause bei Garten-Ole und Garten-Kirsten. „Einen froheren Tag könnten wir nicht erleben!“ sagten die beiden. Hans wurde auf das Schloss gerufen. Diesen Weg war er seit vielen Jahren nicht gegangen: es war, als ob die Bäume und Nußbüsche, die er so gut kannte, ihm zunickten und sagten: „Guten Tag, Hans! Willkommen hier draußen!“ Die Sonne schien ihm ins Gesicht, bis ins Herz hinein.

Die Herrschaft, die jungen, herzensguten Edelleute, ließen ihn bei sich sitzen und sahen so froh aus, als ob er zu ihrer eigenen Familie gehörte. Am glücklichsten aber war die gnädige Frau, die ihm das Märchenbuch geschenkt und den kleinen Singvogel gebracht hatte, der war freilich vor Schrecken gestorben, aber er war gleichsam das Mittel zu seiner Genesung geworden, und das Buch war ihm und den Eltern zur Erweckung geworden. Das Buch hatte er noch, das wollte er aufbewahren und darin lesen, wenn er auch schon ganz alt sein würde. Jetzt konnte er auch seinen Eltern von Nutzen sein. Er wollte ein Handwerk lernen, am liebsten Buchbinder werden. „Denn“, sagte er, „dann kann ich alle neuen Bücher zu lesen bekommen!“

Am Nachmittag ließ die gnädige Frau die Eltern zu sich rufen. Sie und ihr Mann hatten zusammen von Hans geredet. Er war ein frommer und kluger Junge, hatte Lust zum Lernen, und es war ihm leicht. Der liebe Gott ist immer für eine gute Sache. An dem Abend kamen die Eltern recht froh vom Schloss nach Hause, besonders Kirsten, aber eine Woche später weinten sie, denn da reiste der kleine Hans. Er hatte gute Kleider bekommen. Er war ein guter Junge; aber jetzt sollte er über das salzige Wasser, weit fort, in die Schule geschickt werden, in eine gelehrte Schule, und es würden viele Jahre vergehen, ehe sie ihn wiedersahen.

Das Märchenbuch bekam er nicht mit, das wollten die Eltern zum Andenken behalten. Und der Vater las oft darin, aber immer nur die zwei Geschichten, denn die kannte er. Und sie bekamen Briefe von Hans, einer immer glücklicher als der andere. Er war bei guten Menschen, in guten Verhältnissen,und am allerschönsten war es, zur Schule zu gehen. Da war so viel zu lernen und zu wissen. Er wünschte nur, dass er hundert Jahre alt werden möchte und dass er einmal Schullehrer werden könnte. „Wenn wir das erleben sollten!“ sagten die Eltern, und die drückten einander die Hände wie beim Abendmahl. „Was ist doch nur aus Hans geworden!“ sagte Ole. „Der liebe Gott denkt doch auch an die armen Kinder! Gerade bei dem Krüppel sollte sich das zeigen! Ist es nicht, als ob Hans uns das alles aus dem Märchenbuch vorgelesen hätte!“

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