Vorlesezeit für Kinder: 54 min
Wir reisen zur Pariser Ausstellung:
Jetzt sind wir da! Das war ein Flug, eine Fahrt, ganz ohne Zauberei. Wir fahren mit Dampf auf der Landstraße dahin.
Unsere Zeit ist die Zeit des Märchens.
Wir sind mitten in Paris in einem großen Hotel. Blumen schmücken die Treppen bis oben hinaus, über die Stufen sind weiche Teppiche gebreitet.
Unser Zimmer ist gemütlich. Die Balkontür nach einem großen Platz hinaus steht offen. Da untern wohnt der Frühling, er ist nach Paris gefahren und zur selben Zeit eingetroffen wie wir, er kam in Gestalt eines großen jungen Kastanienbaumes mit eben ausgeschlagenen feinen Blättern. Wie ist er in Lenzschönheit gekleidet vor allen anderen Bäumen auf dem Platz! Einer von ihnen ist ganz ausgetreten aus der Zahl der lebenden Bäume und liegt, mit den Wurzel ausgerissen, an die Erde geworfen, da. Wo er gestanden hat, soll jetzt der frische Kastanienbaum gepflanzt werden und wachsen.
Noch steht er, hoch aufgerichtet, auf dem schweren Wagen, der ihn heute morgen nach Paris brachte, mehrere Meilen weit vom Lande her. Dort hatte er seit Jahren dicht neben einer mächtigen Eiche gestanden, unter der oft der alte, prächtige Geistliche saß, der zu den lauschenden Kindern sprach und ihnen erzählte. Der junge Kastanienbaum hörte alles mit an. Die Dryade, die in seinen Zweigen wohnte und die ja noch ein Kind war, konnte zurückdenken bis zu der Zeit, wo der Baum so klein war, dass er nur ein wenig über die hohen Grashalme und Farnkräuter aufragte. Die waren schon so groß, wie sie werden konnten, aber der Baum wuchs und nahm mit jedem Jahr zu, trank Luft und Sonnensein, bekam Tau und Regen und wurde, was notwendig war, von den starken Winden gerüttelt und geschüttelt. Das gehört mit zur Erziehung.
Die Dryade freute sich ihres Daseins, freute sich über den Sonnenschein und den Vogelgesang, am meisten aber über die Stimme der Menschen, sie verstand ihre Sprache ebenso gut, wie sie die der Tiere verstand.
Schmetterlinge, Libellen und Fliegen, ja alles, was fliegen konnte, stattete ihr einen Besuch ab; plaudern konnten sie alle. Sie erzählten von dem Dorf, den Weinbergen, dem Walde, dem alten Schloss mit seinem Park, in dem Kanäle waren und Teiche. Dort unten im Wasser wohnten auch lebende Wesen, die auf ihre Weise, unter dem Wasser, von Ort zu Ort fliegen konnten, Wesen mit Kenntnissen und Nachdenken. Sie sagten nichts, so klug waren sie.
Und die Schwalbe, die ins Wasser hinabgetaucht war, erzählte von den schönen Goldfischen, von den fetten Brachsen, den dicken Schleien und den alten, bemoosten Karauschen. „Die Schwalbe machte eine sehr genaue Beschreibung, aber man sieht es doch besser selber“, meinte sie; aber wie sollte jemals die Dryade die Wesen zu sehen bekommen! Sie musste sich damit begnügen, über die schöne Landschaft hinauszusehen und die geschäftige Menschwirksamkeit zu spüren.
Schön war es, am schönsten aber doch, wenn der alte Geistliche hier unter der Eiche stand und von Frankreich erzählte, von den großen Taten von Männern und Frauen, deren Namen voller Bewunderung durch alle Zeiten hindurch genannt werden.
Die Dryade hörte von dem Hirtenmädchen Jeanne d’Ard, von Charlotte Corday, sie hörte von uralten Zeiten, von Heinrichs des Vierten und von Napoleons Zeit und, bis in die Jetztzeit hinauf, von Tüchtigkeit und Größe. Sie hörte Namen, und in einem jeden war ein Klang, der in das Herz des Volkes drang: Frankreich ist das Land der Welt, der Erdboden der Klugheit mit dem Krater der Freiheit!
Die Dorfkinder lauschten andächtig, die Dryade nicht weniger. Sie war ein Schulkind mit den anderen. Sie sah in der Gestalt der segelnden Wolken Bild auf Bild von dem, was sie hatte erzählen hören. Der Wolkenhimmel war ihr Bilderbuch.
Sie fühlte sich so glücklich in dem schönen Frankreich, hatte aber doch ein Gefühl, dass die Vögel, dass jedes Tier, das fliegen konnte, weit begünstigter sei als sie. Selbst die Fliege konnte sich umsehen, konnte weit umherfliegen, weit über den Gesichtskreis der Dryade hinaus.
Frankreich war so ausgedehnt und herrlich, aber sie sah nur einen kleinen Fleck davon, weltweit erstreckte sich das Land mit Weinbergen, Wäldern und großen Städten, und von diesen allen war Paris die herrlichste und mächtigste. Dahin konnten die Vögel gelangen, sie aber nie.
Unter den Dorfkindern war auch ein kleines, zerlumptes, ärmliches Mädchen, das aber wunderschön anzusehen war; immer sang und lachte die Kleine und wand rote Blumen in ihr schwarzes Haar.
„Gehe nicht nach Paris!“ sagte der alte Geistliche. „Arme Kleine! Wenn du dahin kommst, so wird es dein Verderben sein!“
Und doch ging sie dahin.
Die Dryade dachte oft an sie, sie hatten ja beide dasselbe Verlangen und dieselbe Sehnsucht nach der großen Stadt.
Es ward Frühling, Sommer, Herbst, Winter; einige Jahre vergingen.
Der Baum der Dryade trug seine ersten Kastanienblüten, die Vogel zwitscherten in dem herrlichen Sonnenschein umher. Da kam die Landstraße entlang eine stattliche Kutsche mit einer vornehmen Dame, sie lenkte selber die leichtspringenden schönen Pferde. Ein geputzter kleine Jockey saß hintenauf. Die Dryade erkannte sie wieder, der alte Geistliche erkannte sie wieder, schüttelte den Kopf und sagte betrübt:
„Du kamst in die große Stadt! Das ward dein Verderben, arme Marie!“
„Die und eine Arme!“ dachte die Dryade. „Nein, welch eine Verwandlung! Sie ist gekleidet wie eine Herzogin! Das geschah in der Stadt der Verzauberung! Ach, wäre ich doch da, in all dem Glanz und der Pracht! Selbst die Wolken werden in der Nacht davon beleuchtet, das sehe ich, wenn ich den Blick dahin wende, wo, wie ich weiß, die Stadt liegt.“
Ja, dahin, nach der Richtung, sah die Dryade jeden Abend, jede Nacht. Sie sah den strahlenden Nebel am Horizont. Sie entbehrte ihn in hellen, mondklaren Nächten. Sie entbehrte die segelnden Wolken, die ihr Bilder von der Stadt und aus der Geschichte zeigten.
Das Kind greift nach dem Bilderbuch, die Dryade griff nach der Wolkenwelt, ihrem Gedankenbuch.
Der sommerwarme, wolkenlose Himmel war ihr ein leeres Blatt, und jetzt hatte sie seit mehreren Tagen nichts weiter gesehen.
Es war warme Sommerzeit mit sonnenheißen Tagen ohne einen Lufthauch; jedes Blatt, jede Blume lag wie im Schlaf, auch die Menschen schienen zu schlafen.
Da türmten sich Wolken auf, und zwar in einer Richtung, wo in der Nacht der strahlende Nebel verkündete: hier ist Paris.
Die Wolken ballten sich zusammen, formten sich zu einer ganzen Gebirgslandschaft, schoben sich durch die Luft über das ganze Land, so weit die Dryade zu sehen vermochte.
Gleich mächtigen, schwarzblauen Felsblöcken lagen die Wolken in Schichten übereinander hoch in der Luft. Die Blitzstrahlen fuhren heraus. „Auch sie sind Diener das Herrn“, hatte der alte Geistliche gesagt. Und es kam ein blendender Blitz, ein Aufzucken des Lichtes, als wolle die Sonne selber den Felsblock sprengen, der Blitz schlug nieder und zersplitterte die alte, mächtige Eiche bis zur Wurzel. Ihre Krone teilte sich, der Stamm teilte sich, zerspalten fiel er als breite er sich aus, um den Sendboten des Lichts zu empfangen.
Keine Erzkanonen vermögen bei der Geburt eines Königskindes so durch die Luft und über das Land zu schallen wie das Dröhnen des Donners hier bei dem Heimgang der alten Eiche. Der Regen strömte herab, der erfrischende Wind lüftete aus, das Unwetter war vorüber, es war so sonntagsfestlich. Die Leute aus dem Dorf versammelten sich um die gefällte alte Eiche. Der alte Geistliche sprach ehrende Worte, ein Maler zeichnete den Baum selbst zur bleibenden Erinnerung.
„Alles fährt dahin“, sagte die Dryade, „Fährt dahin wie die Wolke und kehrt nimmer wieder!“
Der alte Geistliche kam nicht wieder hierher: das Schuldach war zusammengestürzt, der Katheder war weg. Die Kinder kamen nicht mehr hierher, aber der Herbst kam, der Winter kam, und auch der Frühling kam, und in allen den wechselnden Zeiten sah die Dryade nach der Richtung hinüber, wo jeden Abend und jede Nacht, fern am Horizont, Paris gleich einem schimmernden Nebel leuchtete. Und aus dem Nebel heraus flog eine Lokomotive nach der anderen, sausend, brausend, zu allen Zeiten, des Abends, um Mitternacht und am Morgen, und während des ganzen hellen Tages kamen die Züge, und aus einem jeden und in einen jeden hinein strömten Menschen aus allen Ländern der Welt. Ein neues Weltwunder hatte sie nach Paris gelockt.
Wie offenbarte sich dies Wunder?
„Eine Prachtblüte der Kunst und Industrie“, hieß es, „ist auf dem pflanzenlosen Sand des Marsfeldes emporgesproßt: Eine Riesensonnenblume, aus deren Blättern man Geographie, Statistik lernen, zu Kunst und Poesie emporgehoben, des Landes Größe und Umfang erkennen kann.“ – „Eine Märchenblüte“ sagten andere, „eine bunte Lotuspflanze, die ihre grünen Blätter wie Sammetteppiche über den Sand ausbreitet, ist im frühen Lenz emporgesproßt, die Sommerzeit wird sie in ihrer ganzen Prachtenfaltung sehen, die Stürme des Herbstes werden sie verwehen, es wird weder Blatt noch Wurzel davon übrigbleiben.“
Vor der Militärschule dehnt sich die Kriegsarena zur Friedenszeit, das Feld ohne Gras, ohne Strohhalm aus, ein Stück Sandsteppe, aus der Wüste Afrikas ausgeschnitten, in der die Fata Morgana ihre seltsamen Luftschlösser und hängenden Gärten sehen lässt. Auf dem Marsfelde standen sie jetzt weit prächtiger, weit wunderbarer, denn sie waren durch Menschenklugheit Wirklichkeit geworden.
„Aladins Schloss ist erbaut, hieß es. „Tag für Tag, Stunde auf Stunde entfaltet es seine reiche Herrlichkeit mehr und mehr. Von Marmor und Farben prangen die unendlichen Hallen. Meister „Blutlos“ bewegt hier seine Stahl- und Eisenglieder in dem großen Ringsaal der Maschinen. Kunstwerke in Metall, in Stein, in Gewebe verkünden das Leben des Geistes, das sich in allen Ländern der Welt regt. Bildersäle, Blumenpracht, alles was Geist und Hand in den Werkstätten der Natur schaffen kann, ist hier zur Schau gestellt; selbst die Erinnerungen des Altertums aus alten Schlössern und Torfmooren haben sich hier eingestellt.“
Der überwältigend große, bunte Anblick muss klein gemacht, muss zu einem Spielzeug zusammengedrängt werden, um wiedergegeben, aufgefasst und als Ganzes gesehen werden zu können. Gleich einem großen Weihnachtstisch trug das Marsfeld ein Aladinschloss der Kunst und Industrie, und rund darum herum waren Nippesgegenstände aus allen Ländern aufgestellt; jede Nation erhielt eine Erinnerung an ihre Heimat.
Hier stand das Königsschloss Ägyptens, dort die Karawanserei des Wüstenlandes. Der Beduine, der auf dem Kamel aus seinem Sonnenlande kam, jagte vorüber; hier breiteten sich russische Ställe mit feurigen, prächtigen Pferden aus den Steppen aus. Das kleine, strohgedeckte dänische Bauernhaus stand mit seiner Danebrogflagge neben Gustav Wasas prächtigem holgeschnitztem Hause aus Dalarne; amerikanische Hütten, englische Cottages, französische Pavillons, Kioske, Kirchen und Theater lagen wunderlich zerstreut, und zwischen dem allen der frische, grüne Rasen, das klare rinnende Wasser, blühende Sträucher, seltene Bäume, Glashäuser, wo man sich in die tropischen Wälder versetzt glauben musste; ganze Rosengärten prangten unter Dach und Fach, als seien sie aus Damaskus geholt. Welche Farben, selch ein Duft! Tropfsteinhöhlen, künstlich aufgeführt, umschlossen Süß- und Salzwasserseen, gewährten einen Blick in das Reich der Fische. Man stand unten auf dem Meeresgrund zwischen Fischen und Polypen.
Das alles, so hieß es, trägt jetzt das Marsfeld und bietet es dar, und über diese reichgedeckte Festtafel hin bewegt sich gleich geschäftlichen Ameisenschwärmen das ganze Menschengewimmel, zu Fuß oder in kleinen Wagen gezogen, denn alle Beine halten eine so ermüdende Wanderung nicht aus.
Hier hinaus strömen die Menschen vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Ein überfülltes Dampfschiff nach dem anderen gleitet die Seine hinab, die Wagenzahl nimmt fortwährend zu, die Menschenmenge zu Fuß und zu Pferd ist in beständiger Zunahme begriffen, Straßenbahnen und Omnibusse sind vollgestopft, gepfropft, mit Menschen garniert. Alle diese Ströme bewegen sich einem Ziel zu: der Pariser Ausstellung! An allen Eingängen prangen die Flaggen Frankreichs, rings um das Basargebäude wehen die Fahnen aller Nationen. Es saust und summt aus der Maschinenhalle, von den Türmen herab klingen die Melodien der Glockentürme, in den Kirchen spielen die Orgeln, und in das alles mischen sich heisere, näselnde Gesänge aus den morgenländischen Cafés. Es ist wie ein babylonisches Reich, ein babylonisches Zungengewirr, ein Weltwunder.
Ja, so war es, so lauteten die Beschreibungen, die man darüber hörte. Und wer hörte sie nicht? Die Dryade wusste alles, was hier von dem „neuen Wunder“ in der Stadt der Städte gesagt ist.
„Fliegt, ihr Vögel! Fliegt hin, um zu sehen, kommt wieder und erzählt!“ so lautete das Flehen der Dryade.
Die Sehnsucht schwoll zum Wunsch, ward zum Lebensgedanken. Und als in der stillen. schweigenden Nacht der Vollmond schien, da flog ein Funke aus seiner Scheibe heraus, die Dryade sah ihn, er fiel und leuchtete wie eine Sternschnuppe, und vor dem Baum, dessen Zweige erbebten wie in einem Sturmwind, stand eine mächtige, strahlende Gestalt, die redete in weichen und doch so starken Tönen wie eine Posaune des Jüngsten Tages, die zum Leben wachküsst, und zum Gericht ruft.
„Du sollst hingelangen in die Stadt der Verzauberung, du sollst dort Wurzeln schlagen, sollst die sausenden Strömungen dort spüren und die Luft und den Sonnenschein. Aber deine Lebenszeit wird alsdann verkürzt werden, die Reihe von Jahren, die deiner hier draußen im Freien harrte, wird verkürzt werden, wird da drinnen zu einer geringen Summe von Jahren einschrumpfen. Arme Dryade, es wird dein Verderben sein! Dein Sehnen wird wachsen, dein Verlangen, dein Begehren wird stärker werden! Der Baum selbst wird dir ein Gefängnis werden, du wirst dein schützendes Heim verlassen, wirst deine Natur verlassen, wirst ausfliegen und dich unter die Menschen mischen, und da sind deine Jahre eingeschrumpft zu der halben Lebenszeit der Eintagsfliege, nur eine einzige Nacht wirst du leben. Dein Lebenslicht wird ausgeblasen werden, die Blätter des Baumes werden welken und verwehen und nie wiederkehren.“
So klang es, so sang es, und der Lichtschimmer schwand, nicht aber das Sehnen und Verlangen der Dryade. Sie zitterte voller Erwartung in wildem Fieber der Vorfreude.
„Ich werde in die Stadt der Städte kommen!“ jubelte sie. „Das Leben beginnt, schwillt zur Wolke an, niemand weiß, wohin es geht!“
Bei Tagesgrauen, als der Mond bleich ward und die Wolken erröteten, schlug die Stunde der Erfüllung, die Worte des Gelöbnisses wurden eingelöst.
Es kamen Leute mit Stangen und Spaten. Sie gruben rings um die Wurzeln des Baumes, tief hinab, tief darunter. Ein von Pferden gezogener Wagen fuhr vor, der Baum mit den Wurzeln und dem Erdklumpen, den die Wurzeln umschlangen, wurde in die Höhe gehoben, in Binsenmatten gewickelt wie in einen warmen Fußsack, und dann ward er auf den Wagen geladen und festgebunden, er sollte auf Reisen gehen, nach Paris, dort sollte er wachsen und bleiben, in Frankreichs stolzer Stadt, in der Stadt der Städte.
Die Zweige und Blätter des Kastanienbaumes bebten im ersten Augenblick der Erregung, die Dryade bebte in der Wollust der Erwartung.
„Fort! Fort!“ klang es in jedem Pulsschlag. „Fort! Fort!“ klang es in bebenden hinschwebenden Worten. Die Dryade vergaß, ihrer Heimat Lebewohl zu sagen, Abschied zu nehmen von den wogenden Grashalmen und den unschuldigen Gänseblümchen, die zu ihr aufgesehen hatten wie zu einer großen Dame in des lieben Gottes Blumengarten, wie zu einer jungen Prinzessin, die hier draußen im Freien die Rolle einer Hirtin spiele.
Der Kastanienbaum lag auf dem Wagen, er nickte mit seinen Zweigen. „Lebe wohl“ oder „Fort von hier!“, die Dryade wusste es nicht. Sie träumte von dem wunderbar Neuen und doch so Bekannten, das sich entrollen sollte. Kein Kinderherz in unschuldiger Freude, kein sinnlich wallendes Blut hat gedankenerfüllter wie sie die Reise nach Paris angetreten.
Das „Lebewohl!“ war ja „Fort von hier!“
Die Wagenräder drehten sich um ihre Achse, das Ferne ward nah, lag bald überholt. Die Gegenden wechselten, wie die Wolken wechseln; neue Weinberge, Wälder, Dörfer, Villen und Gärten tauchten auf, kamen zum Vorschein, rollten vorüber. Der Kastanienbaum bewegte sich vorwärts und mit ihm die Dryade. Lokomotiven entsandten Wolken, die Gestalten bildeten, und diese erzählten von Paris, woher sie kamen, wohin die Dryade wollte.
Alles ringsumher musste und musste ja begreifen, wohin ihr Weg ging. Es war ihr, als strecke jeder Baum an dem sie vorüberkam, seine Zweige nach ihr aus, als flehe er: „Nimm mich mit – nimm mich mit!“ In jedem Baum saß ja auch eine sehnsuchtsvolle Dryade.
Welch ein Wechsel! Welch ein Flug! Es war, als schössen die Häuser aus der Erde auf, mehr und mehr, immer düsterer. Die Schornsteine ragten auf wie Blumentöpfe, die aufeinander und nebeneinander auf die Dächer gestellt waren; große Inschriften mit ellenlangen Buchstaben, gemalte Schilder, schimmerten an den Häusern von unter bis unters Dach.
„Wo fängt Paris an, und wann bin ich da?“ fragte sie die Dryade. Das Menschengewimmel nahm beständig zu, Leben und Geschäftigkeit wurden immer reger, ein Wagen folgte dem anderen, den Fußgängern folgten Reiter, und ringsumher lag ein Laden neben dem anderen, ertönte Musik, Gesang, Geschrei und Geplauder.
Die Dryade in ihrem Baum war mitten in Paris.
Der große, schwere Wagen hielt auf einem kleinen, mit Bäumen bepflanzten Platz; ringsumher lagen hohe Häuser, in denen jedes Fenster seinen Balkon hatte, von dort oben sahen die Laute auf den jungen, frischen Kastanienbaum herab, der gefahren kam und nun hier an Stelle des ausgegangenen, ausgerissenen Baumes, der an der Erde lag, eingepflanzt werden sollte. Auf dem Platz standen die Menschen still und sahen mit Lächeln und Freude das Frühlingsgrün an. Die älteren Bäume, die erst in Knospen standen, grüßten mit rauschenden Zweigen: „Willkommen! Willkommen!“, und der Springbrunnen, der seine Strahlen in die Luft emporschleuderte und sie in die breite Kumme niederplätschern ließ, entsandte durch den Wind Tropfen zu dem neu angekommenen Baum hinüber, als wolle er ihm einen Willkommenstrunk bieten.
Die Dryade fühlte, wie ihr Baum von dem Wagen gehoben und an seinen künftigen Platz gestellt wurde. Die Wurzeln des Baumes wurden in der Erde geborgen, frischer Rasen ward darübergelegt; blühende Büsche und Töpfe mit blühenden Gewächsen wurden um den Baum gepflanzt. Es entstand ein ganzer Gartenfleck mitten auf dem Platz. Der abgestorbene, ausgerissene Baum, der hier drinnen von Gasluft, Speisenduft und der erstickenden Stadtluft getötet war, wurde auf den Wagen gelegt und weggefahren. Die Volksmenge sah das alles mit an, Kinder und alte Leute saßen auf der Bank im Grünen und sahen zwischen die Blätter des eben gepflanzten Baumes hinaus. Und wir, die wir davon erzählen, standen auf dem Balkon, sahen hinab in den jungen Lenz von da draußen aus der frischen Landluft und sagten, was der alte Geistliche gesagt haben würde: „Arme Dryade!“
„Glückselig bin ich, glückselig!“ sagte die Dryade. „Und doch, ich kann es nicht recht begreifen, kann nicht recht aussprechen, was ich empfinde; alles ist so, wie ich es mir gedacht habe, und doch ist es nicht so, wie ich es dachte!“
Die Häuser waren so hoch, standen so nahe. Die Sonne beschien nur eine einzige Wand, und die war mit Anschlägen und Plakaten bekleistert, vor denen die Leute stehenblieben und sich drängten. Wagen jagten vorüber, leichte und schwere; Omnibusse, diese überfüllten fahrenden Häuser, rummelten über den Platz; Reiter sprengten vorbei, Karren und Equipagen verlangten das gleiche Recht. „Würden sich“, dachte die Dryade, „die hochgewachsenen Häuser, die so nahe standen, nicht auch bald auf- und davonmachen, ihre Gestalt verändern, so wie die Wolken des Himmels es können, zur Seite gleiten, damit sie in Paris hinein und darüber hinwegsehen konnte? Notre-Dame musste sich zeigen, die Vendomesäule und das Wunderwerk, das alle die vielen Fremden hierhergerufen hatte und noch immer rief.“
Die Häuser rührten sich nicht vom Fleck.
Es war noch Tag, als die Laternen angezündet wurden; aus den Läden leuchteten die Gasstrahlen, verbreiteten Licht zwischen die Zweige der Bäume. Es war wie Sommersonnenschein. Die Sterne oben am Himmel kamen zum Vorschein, es waren dieselben, die die Dryade in ihrer Heimat gesehen hatte. Sie glaubte, einen Lufthauch von da draußen zu spüren, so rein und mild. Sie fühlte sich gehoben, gestärkt und spürte eine Sehkraft durch jedes Blatt des Baumes, eine Empfindung in den äußersten Spitzen der Wurzeln. Sie fühlte sich in der lebenden Menschwelt, von milden Augen gesehen; ringsumher herrschten Gewimmel und Lärm, Farben und Licht.
Aus der Seitenstraße ertönten Blasinstrumente und zum Tanz anregende Melodien des Leierkastens. Ja, zum Tanz! Zum Tanz! Zu Freude und Lebensgenuß riefen die Töne.
Es war eine Musik, so dass Menschen, Pferde, Wagen, Bäume und Häuser dazu tanzen mussten, wenn sie tanzen konnten. Ein Freudenrausch stieg in der Brust der Dryade auf.
„Wie lieblich und herrlich!“ jubelte sie. „Ich bin in Paris!“
Der Tag, der kam, und die Nacht, die auf diesen Tag folgte, und abermals der nächste Tag und die nächste Nacht boten denselben Anblick dar, dasselbe Treiben, dasselbe Leben, wechselvoll und doch immer dasselbe.
„Jetzt kenne ich jeden Baum, jede Blume hier auf dem Platz! Ich kenne jedes Haus, jeden Balkon und jeden Laden hier, wo man mich in diesen kleinen engen Winkel gestellt hat, der die mächtige Stadt meinen Blicken entzieht. Wo sind die Triumphbogen, die Boulevards, die Wunderwerke der Welt? Nichts von alledem sehe ich. Eingeschlossen wie in einem Käfig stehe ich zwischen den hohen Häusern, die ich nun mit ihren Inschriften, Plakaten und Schildern auswendig weiß, alles ist nur ein Honig-um-den-Mund-Streichen, das mir nicht mehr behagt. Wo ist doch nur alles das, wovon ich hörte, wovon ich weiß, wonach ich mich sehnte und weswegen ich hierher wollte? Was habe ich erfaßt, gewonnen, gefunden? Ich sehne mich ebenso wie ehedem, und doch weiß ich, es gibt ein Leben, das ich ergreifen, in dem ich leben muss! Ich will in die Reihen der Lebenden! Will mich dort tummeln, fliegen wie ein Vogel, sehen und fühlen, ich will ganz Mensch sein, will einen halben Tag des Lebens wählen statt eines jahrelangen Lebens in der Müdigkeit und Langeweile des Alltagslebens, in dem ich hinwelke, sinke, falle wie die Nebel der Wiese und verschwinde. Strahlen will ich wie die Wolke, strahlen in der Sonne des Lebens, auf das Ganze hinabsehen, wie die Wolke, hinfahren wie sie, niemand weiß, wohin!“
Das war der Seufzer der Dryade, der sich im Gebet emporschwang:
Nimm die Jahre meines Lebens, gib mir das Leben der Eintagsfliege! Erlöse mich aus meinem Gefängnis, gewähre mir für eine kurze Weile Menschenleben, Menschenglück, nur diese eine Nacht, wenn es nicht anders sein kann, und strafe mich dann nur für meinen kühnen Lebensmut, für die Sehnsucht meines Lebens! Lösche mich aus, lass mein Heim, den frischen, jungen Baum, hinwelken, möge er gefällt werden, zu Asche verbrennen, in alle Winde verwehen!“
Es sauste in den Zweigen des Baumes, ein kitzelndes Gefühl, ein Zittern durchrieselte jedes Blatt, als ströme ein Feuer hindurch oder gehe davon aus, ein Windstoß sauste durch die Krone des Baumes, und aus seiner Mitte erhob sich eine Frauengestalt, die Dryade selber. Im selben Augenblick saß sie unter den gasbestrahlten blätterreichen Zweigen, jung und schön wie die arme Marie, zu der gesagt worden war: „Die große Stadt wird dein Verderben!“
Die Dryade saß am Fuße des Baumes, vor ihrer Haustür, die sie abgeschlossen und deren Schlüssel sie weggeworfen hatte. So jung, so schön! Die Sterne sahen sie, die Sterne blinkten, die Gasflammen sahen sie, strahlen, winkten! Wie schlank und doch wie fest war sie, ein Kind und doch eine erwachsene Jungfrau, Ihre Kleidung war seidenfein, grün wie die eben entfalteten frischen Blätter in der Kröne des Baumes. In ihrem nußbraunen Haar hing eine halberschlossene Kastanienblüte. Sie glich der Göttin des Frühlings.
Nur eine kurze Minute saß sie regungslos still, dann sprang sie auf, und mit einer Geschwindigkeit wie die der Gazelle stürzte sie davon, bog um die Ecke, sie lief, sie sprang wie das Aufblitzen eines Spiegels, der in der Sonne getragen wird, das Aufblitzen, das bald hierhin, bald dahin geworfen wird. Und hätte man genau zusehen können, hätte man sehen können, was da zu sehen war, wie wunderbar! An jeder Stelle, wo sie einen Augenblick verweilte, verwandelte sich ihr Gewand, ihre Gestalt, der Eigenschaft des Ortes, des Hauses entsprechend, dessen Lampe sie beschien.
Sie erreichte den Boulevard; hier strömte ihr ein Lichtmeer von Gasflammen aus Laternen, Läden, Cafés entgegen. Hier standen Reihen von Bäumen, junge und schlanke, ein jeder behauste seine Dryade, schützte sie vor den Strahlen des künstlichen Sonnenlichts. Der ganze, unendlich lange Bürgersteig war wie ein einziger großer Gesellschaftssaal, hier standen gedeckte Tische mit allen möglichen Erfrischungen, Champagner, Chartreuse bis hinab zu Kaffee und Bier, hier war eine Ausstellung von Blumen, von Bildern, Statuen, Büchern und bunten Stoffen.
Von dem Gewimmel unter den hohen Häusern sah sie hinaus über den schreckeinjagenden Strom außerhalb der Baumreihe: da wogte eine Flut von rollenden Wagen, Kabrioletts, Kutschen, Omnibussen, Droschken, Reitern und aufmarschierenden Regimentern. Es kostete Leben und Glieder, wenn man nach dem gegenüberliegenden Ufer hinüberkreuzen wollte. Jetzt leuchtete eine bewegliche Flamme auf, jetzt hatte wieder das Gaslicht die Herrschaft gewonnen, plötzlich stieg eine Rakete auf, woher, wohin?
Ja, das war die große Landstraße der Welt!
Hier ertönten weiche italienische Melodien, dort spanische Lieder, begleitet von den Schlägen der Kastagnetten, am stärksten aber, das Ganze übertäubend, schallten die Spieldosenmelodien, die kitzelnde Cancanmusik, die Orpheus nicht kannte und die nie von der schönen Helena gehört wurde, selbst die Schubkarre musste auf ihrem einen Rad tanzen, wenn sie tanzen konnte. Die Dryade tanzte, schwebte, flog, wechselte die Farben wie der Kolibri im Sonnenlicht, jedes Haus und seine Welt da drinnen verliehen ihr den Reflex.
Gleich der strahlenden Lotusblüte, die von ihrer Wurzel losgerissen, von dem Strome davongeführt und auf seinen Wirbeln getragen wird, so trieb sie dahin, und wo sie stillstand, war sie immer wieder eine neue Erscheinung, daher vermochte niemand, ihr zu folgen, sie wiederzuerkennen, zu beschauen.
Wie Wolkenbilder flog alles an ihr vorüber, Gesicht neben Gesicht, aber nicht ein einziges kannte sie, nicht eine Gestalt aus ihrer Heimat sah sie. Da blitzten in ihren Gedanken zwei strahlende Augen auf, sie dachte an Marie, an die arme Marie. An das zerlumpte, fröhliche Kind mit der roten Blume in dem schwarzen Haar. Sie war ja in der Weltstadt, reich, strahlend, so wie damals, als sie am Hause des Pfarrers, an dem Baum der Dryade und an der alten Eiche vorübergefahren war.
Sie war sicher hier in dem betäubenden Lärm, war vielleicht eben ausgestiegen aus der harrenden, prächtigen Kutsche; elegante Wagen hielten hier mit galonierten Kutschern und seidenbestrumpften Dienern. Die Herrschaften, die ausstiegen, waren ausnahmslos Frauen, reichgekleidete Damen. Sie schritten durch die offenen Gitterpforten, die hohe, breite Treppe hinan, die zu einem Gebäude mit Marmorsäulen führte. War dies etwa das Weltenwunderwerk? Dort war sicher Marie!
„Sancta Maria!“ sangen sie da drinnen, der Räucherduft wogte hervor unter den hohen, gemalten und vergoldeten Bogen, wo Dämmerung herrschte. Es war die Magdalenenkirche.
Schwarzgekleidet, in den köstlichsten Stoffen, nach der letzten, höchsten Mode, schritt hier die vornehme weibliche Welt über den blanken Fußboden. Das Wappen zierte den Silberbeschlag des in Sammet gebundenen Gebetbuches und das stark parfümierte feine Taschentuch mit den kostbaren Brüsseler Spitzen. Einige von den Frauen knieten im stillen Gebet vor den Altären, andere suchten die Beichtstühle auf.
Die Dryade empfand eine Unruhe, eine Angst, als sei sie an einen Ort geraten, den sie nicht betreten dürfe. Hier war das Heim des Schweigens, die Halle der Heimlichkeiten; alles wurde geflüstert und lautlos anvertraut.
Die Dryade sah sich selber in Seide und Schleier vermummt, sie glich in der Erscheinung den anderen Frauen des Reichtums und Adels; ob wohl eine jede von Ihnen ein Kind der Sehnsucht war, so wie sie?
Da ertönte ein Seufzer, so schmerzlich tief; kam er aus der Ecke des Beichtstuhls oder aus der Brust der Dryade? Sie zog den Schleier fester um sich. Sie atmete Kirchenräucherduft und nicht die frische Luft. Hier war nicht die Stätte ihrer Sehnsucht.
Fort! Fort! In fliegender Eile, ohne Rast! Die Eintagsfliege hat keine Ruhe, ihr Fliegen ist Leben.
Sie war wieder da draußen unter strahlenden Gaskandelabern bei prachtvollen Springbrunnen. „Alle Wasserströme vermögen doch nicht das unschuldige Blut abzuspülen, das hier vergossen ist.“
Die Worte wurden gesagt.
Hier standen fremde Leute, die sprachen laut und lebhaft, wie niemand zu sprechen wagte in dem großen Hochsaal der Geheimnisse, von woher die Dryade kam.
Eine große Steinplatte wurde gedreht, in die Höhe gehoben. Sie verstand das nicht. Sie sah den offenen Abstieg in die Tiefe der Erde. Da hinein verschwanden sie aus der sternklaren Luft, aus den sonnenstrahlenden Gasflammen, aus all dem lebenden Leben.
„Ich ängstige mich davor!“ sagte eine von den Frauen, die hier standen. „Ich habe nicht den Mut, da hinabzusteigen, ich mache mir auch nichts daraus, die Herrlichkeit da unten zu sehen! Bleib bei mir!“
„Sollen wir denn nach Hause reisen, Paris verlassen, ohne das Merkwürdigste gesehen zu haben, das eigentliche Wunderwerk der Jetztzeit, das durch die Klugheit und den Willen eines einzigen Mannes ins Leben gerufen ist?“ entgegnete der Mann. „Ich gehe nicht mit hinab!“ lautete die Antwort.
„Das Wunderwerk der Jetztzeit!“ ward da gesagt. Die Dryade hörte es, verstand es. Das Ziel ihrer heißesten Sehnsucht war erreicht, und hier war der Eingang, er führte in die Tiefe hinab, unter Paris. Das hatte sie nicht gedacht, aber jetzt hörte sie es, sie sah die Fremden hinabsteigen, und sie schloss sich ihnen an.
Die Treppe war aus gegossenem Eisen, schraubenförmig, breit und bequem. Eine Lampe leuchtete da unten und noch tiefer wieder eine.
Sie standen in einem Labyrinth von unendlich langen, sich kreuzenden Hallen und Bogengängen. Alle Straßen und Gassen von Paris waren hier zu sehen wie in einem matten Spiegelbild, die Namen waren zu lesen, jedes Haus da oben hatte hier seine Nummer, seine Wurzel, die sich unter die menschenleeren, asphaltierten Bürgersteige schob, die sich um einen breiten Kanal mit einem fremden, sich vorwärtswälzenden Schlamm klemmte. Ein wenig höher ward über Bogen das frische, rinnende Wasser geführt, und ganz oben hingen, einem Netz gleich, Gasröhren, Telegraphendrähte. Lampen leuchteten in Zwischenräumen wie Widerscheinbilder aus der Weltstadt dort oben. Hin und wieder hörte man ein polterndes Rummeln, das waren schwere Wagen, die über die Einstiegdeckel fuhren.
Wo war die Dryade?
Du hast von den Katakomben gehört. Sie sind nur ein verschwindender Strich in dieser neuen, unterirdischen Welt, dem Wunderwerk der Jetztzeit. Den Kloaken unter Paris. Hier stand die Dryade und nicht draußen in der Weltausstellung auf dem Marsfelde.
Ausrufe der Verwunderung, Bewunderung, Anerkennung hörte sie.
„Von hier unten“, so wurde gesagt, „wachsen jetzt Gesundheit und lange Lebensjahre zu Tausenden und Abertausenden da oben hinauf! Unsere Zeit ist die Zeit des Forschritts mit allen seinen Segnungen!“
Das war die Ansicht der Menschen, das waren die Worte der Menschen, nicht aber war es die Ansicht der Geschöpfe, die hier bauten, wohnten und geboren waren, der Ratten. Sie pfiffen aus dem Spalt in einem Stück alten Mauerwerkes so deutlich, so hörbar, so verständlich für die Dryade.
Eine große männliche Ratte mit abgebissenem Schwanz pfiff durchdringlich ihr Empfinden, ihre Beklommenheit, ihre einzig richtige Meinung, und die Familie gab bei jedem Worte ihre Zustimmung zu erkennen.
„Mir wird schlimm und übel vor dem Menschenmiauen, den Worten der Unwissenheit! Ja, jetzt ist es hier herrlich mit Gas und Petroleum, ich fresse dergleichen nicht. Es ist so fein hier geworden und so hell, dass man dasitzt und sich über sich selber schämt und nicht weiß, weswegen man sich schämt. Ach, lebten wir doch in der Zeit des Talglichts! Sie liegt ja gar nicht so weit zurück! Das war eine romantische Zeit, wie man zu sagen pflegt!“
„Was erzählst du da? fragte die Dryade. „Ich habe dich noch nie gesehen. Wovon redest du?“
„Von der schönen alten Zeit“, sagte die Ratte, „von den herrlichen Tagen der Urgroßvater- und Urgroßmutterraten. Dazumal war es eine große Begebenheit, hier herunterzukommen. Hier war ein ganz anderes Rattennest als in ganz Paris! Die Pestmutter wohnte hier unten. Sie tötete Menschen, nie aber Ratten. Räuber und Schmuggler atmeten frei hier unten. Hier war eine Zufluchtsstätte für die interessantesten Persönlichkeiten, die man jetzt nur auf den melodramatischen Theatern da oben sieht. Auch in unserm Rattennest ist die Zeit der Romantik vorüber. Wir haben hier unten frische Luft bekommen und Petroleum.“
So pfiff die Ratte! Sie pfiff auf die neue Zeit zu Ehren für die alte mit der Pestmutter.
Da hielt ein Wagen, eine Art offener Omnibus, mit kleinen flinken Pferden bespannt. Die Gesellschaft setzte sich hinein, fuhr davon, über den Boulevard Sébastopol, aber unter der Erde; unmittelbar darüber erstreckte sich der bekannte menschenwimmelnde oben in Paris.
Der Wagen verschwand im Halbdunkel, die Dryade verschwand, in den Lichtkreis der Gasflamme, in die frische, freie Luft hinaufgehoben. Dort und nicht unten in den sich kreuzenden Wölbungen mit ihrer dumpfen Atmosphäre war das Wunder zu finden, das Weltwunder, das sie in ihrer kurzen Lebensnacht suchte. Es musste stärker strahlen als alle Gasflammen hier oben, stärker als der Mond, der jetzt aus den Wolken auftauchte.
Ja, sicherlich! Und sie sah es in der Ferne, es strahlte vor ihr, es blinkte, winkte wie der Venusstern am Himmel.
Sie sah ein offenes Strahlentor, das in einen kleinen Garten voller Lust und Tanzmelodien führte. Gasflammen schimmerten dort als Rabatten und kleine, stille Seen und Teiche, wo künstliche Wasserpflanzen, aus Blechplatten ausgeschnitten, gebogen und angemalt, in all dem Lichtschimmer prangten und ellenhohe Wasserstrahlen aus ihren Kelchen emporsandten. Schöne Trauerweiden, wirkliche, lenzfrische Trauerweiden, senkten ihre frischen Zweige gleich einem grünen durchsichtigen und doch verhüllenden Schleier herab. Zwischen den Büschen brannte ein Feuer, sein roter Schein beleuchtete kleine, dämmerige, verschwiegene Lauben, die von Tönen durchbraust waren, von einer Melodie, die das Ohr kitzelte, betörend, lockend, die das Blut durch die Pulse der Menschen jagte.
Junge Frauen sah sie, schön, festlich gekleidet, mit dem Lächeln der Unschuld, dem leichten, lachenden Sinn der Jugend, eine „Marie“ mit einer Rose im Haar, aber ohne Equipage und Jockey. Wie wogten sie umher, wie schwangen sie sich in wilden Tänzen! Was war oben, was war unten? Wie von der Tarantel gestochen sprangen sie, lachten sie, lächelten sie, glückselig bereit, die ganze Welt zu umfangen.
Die Dryade fühlte sich mit fortgerissen in dem Tanz. Ihren kleinen Fuß umschloss der seidene Stiefel, kastanienbraun wie das Band, das aus ihrem Haar auf die unbedeckte Schulter herabflatterte. Das seidengrüne Kleid wogte in großen Falten, verbarg aber nicht das schöngeformte Bein mit dem niedlichen Fuß, der vor dem Gesicht des tanzenden Jünglings Zauberkreise in die Luft zu schreiben schien.
War sie in Amidas Zaubergarten? Wie hieß der Ort?
Draußen erstrahlte der Name in Gasflammen: „Mabille.“
Töne und Händeklatschen, Raketen und rieselnde Wasser knallten um die Wette mit dem Champagner hier drinnen, der Tanz war bacchantisch wild, und über dem Ganzen segelte der Mond, freilich mit etwas schiefem Gesicht. Der Himmel war ohne Wolken, klar und rein, man glaubte, von Mabille aus in den Himmel hineinsehen zu können.
Eine verzehrende, kitzelnde Lebenslust durchbebte die Dryade, sie fühlte sich wie in einem Opiumrausch. Ihre Augen sprachen, die Lippen sprachen, aber man hörte die Worte nicht vor dem Klang der Flöten und Violinen. Ihr Tänzer flüsterte ihr Worte ins Ohr, sie wogten im Takt des Cancans. Sie verstand sie nicht, wir verstehen sie nicht. Er streckte seine Arme nach ihr aus, umschlang sie und fasste nur die durchsichtige, gaserfüllte Luft.
Die Dryade wurde von dem Luftstrom getragen, wie der Wind ein Rosenblatt trägt. Hoch oben vor sich erblickte sie eine Flamme, ein blinkendes Licht, auf der Spitze eines Turmes. Das Feuer schien herab von dem Ziel ihres Sehens, schien von dem roten Leuchtturm auf dem Marsfelde, der „Fata Morgana“. Dahin wurde sie von dem Frühlingswind getragen. Sie umkreiste den Turm. Die Arbeiter glaubten, es sei ein Schmetterling, den sie da hinabschweben sahen, um sein zu frühes Kommen mit dem Tode zu büßen.
Der Mond leuchtete, die Gasflammen und Laternen leuchteten in den großen Hallen und in den zerstreut liegenden „Gebäuden der ganzen Welt“, warfen ihren Schein über die Rasenhügel und die durch Menschenschlauheit hergestellten Felsblöcke, über die der Wasserstrahl durch „Meister Blutlos'“ Kraft herabstürzte. Die Höhlen der Meerestiefen und die Tiefen des Süßwassersees, die Reiche der Fische erschlossen sich hier, man war auf dem Boden des tiefen Teiches, man war unten im Meer in der gläsernen Taucherglocke. Das Wasser presste gegen die dicken Glaswände, die nach außen und nach oben darüberlagen. Die Polypen, klafterlang, geschmeidig, sich windend wie Aale, bebende Därme, Arme, griffen um sich, hoben sich empor, wuchsen am Meeresboden fest.
Eine große Scholle lag bedenklich nahe, breitete sich übrigens bequem und behaglich aus. Der Taschenkrebs krabbelte wie eine ungeheure Spinne über sie hin, während sich die Krabben mit einer Geschwindigkeit, einer Hast emporschwangen, als seien sie die Motten, die Schmetterlinge des Meeres.
In dem Süßwassersee wuchsen Wasserrosen, Röhricht und Schilf. Die Goldfische hatte sich in Reih und Glied aufgestellt wie rote Kühe auf dem Felde, alle mit den Köpfen nach derselben Richtung, um die Strömung ins Maul hineinzubekommen. Dicke, fette Schleie glotzten mit dummen Augen durch die Glaswände. Sie wussten, dass sie auf der Pariser Ausstellung waren. Sie wussten, dass sie in mit Wasser gefüllten Tonnen die ziemlich beschwerliche Reise hierher gemacht hatten und auf der Eisenbahn landkrank geworden waren, so wie die Menschen auf dem Meere seekrank werden. Sie waren gekommen, um die Ausstellung zu sehen, und sahen sie aus ihrer eigenen Süßwasser- oder Salzwasserloge, sahen das Menschengewimmel, das sich vom Morgen bis zum Abend vorüberbewegte. Alle Länder der Welt hatten ihre Menschen ausgestellt, damit die alten Schleie und Brachsen, die flinken Barsche und die bemoosten Karpfen diese Geschöpfe sehen und ihre Ansicht über dergleichen austauschen konnten.
„Es sind Schaltiere!“ sagte eine schlammige kleine Bleie. „Sie wechseln die Schale zwei-, dreimal im Tage und geben Mundlaute von sich, Sprache nennen sie das. Wir wechseln nicht und machen uns auf eine leichtere Weise verständlich: Bewegungen der Mundwinkel und Glotzen mit den Augen! Wir haben viel vor den Menschen voraus!“
„Schwimmen haben sie aber doch gelernt!“ sagte ein kleiner Süßwasserfisch. „Ich komme aus dem großen See, da baden die Menschen in der heißen Zeit, zuvor aber legen sie die Schalen ab, und dann schwimmen sie. Die Frösche haben es sie gelehrt; stoßen mit den Hinterbeinen und Rudern mit den Vorderbeinen. Lange halten sie es aber nicht aus. Sie wollen uns gleichen, aber das gelingt ihnen nicht! Arme Menschen!“
Und die Fische glotzten. Sie glaubten, dass das ganze Menschengewimmel, das sie in dem starken Tageslicht gesehen hatten, sich hier noch bewegte. Ja, sie waren überzeugt, noch dieselben Gestalten zu sehen, die ihnen sozusagen zuerst auf die Auffassungsnerven gefallen waren.
Ein kleiner Barsch mit hübsch getigerter Haut und beneidenswert rundem Rücken versicherte, dass der „Menschenmorast“ noch da sei. Er sehe ihn noch. „Ich sehe ihn auch, ich sehe ihn so deutlich!“ sagte ein gelbsuchtgoldiger Schlei. „Ich sehe so deutlich die schöne, gutgewachsene Menschengestalt, „hochbeinige Frau“ oder wie sie sie nannten. Sie hatte unsere Mundwinkel und Glotzaugen, hinten zwei Ballons und vorne einen Regenschirm, großes Entenflott-Gehängsel, Tingel-Tangel. Sie sollte das Ganze nur ablegen, so gehen wie wir, so wie sie geschaffen ist, und sie würde aussehen wie ein redlicher Schlei, soweit die Menschen das fertigbringen können!“
„Wo blieb der Mensch wohl ab, den sie an der Angel zogen?“
„Er fuhr in einem Stuhlwagen, saß mit Papier und Tinte und Feder da, schrieb alles auf, schrieb alles nieder. Was bedeutete er? Sie nannten ihn Rezensent.“
„Er fährt noch da!“ sagte eine bemooste, jungfräuliche Karausche, die die Prüfung der Welt in der Kehle hatte, so dass sie heiser davon war. Sie hatte einstmals einen Angelhaken verschluckt und schwamm nun geduldig damit im Halse herum.
„Rezensent!“ sagte sie. „Das ist vom Fischstandpunkt aus, verständlich ausgedrückt, eine Art Tintenfisch unter den Menschen.“
So redeten die Fische auf ihre Weise. Aber mitten in der künstlich errichteten wassertragenden Grotte ertönten Hammerschläge und Gesang der Arbeiter: sie mussten die Nacht mit zu Hilfe nehmen, damit alles vollendet werde. Sie sangen in dem Sommernachtstraum der Dryade. Sie selber stand hier drinnen, um wieder von dannen zu fliegen und zu verschwinden.
„Das sind die Goldfische!“ sagte sie und nickte ihnen zu. „So bekam ich euch denn doch zu sehen! Ja, ich kenne euch! Ich habe euch lange gekannt! Die Schwalbe hat mir von euch erzählt in unserer Heimat! Wie schön seid ihr, wie schimmernd, wie liebreizend! Ich könnte euch alle nacheinander küssen! Auch die anderen kenne ich! Das da ist gewiss die fette Karausche, dies hier der leckere Brachsen, und diese da sind die bemoosten Karpfen! Ich kenne euch, aber ihr kennt mich nicht!“
Die Fische glotzten, sie verstanden nicht ein einziges Wort. Sie sahen in das dämmernde Licht hinaus.
Die Dryade war nicht mehr da, sie stand im Freien, wo die „Wunderblume der Welt“ ihren Duft aus den verschiedenen Ländern ausströmte, aus dem Schwarzbrotland, von der Stockfischküste, dem Juchtenlederreich, dem Eaude-Cologne-Flussufer, dem Rosenölmorgenland.
Wenn wir nach einer Ballnacht halbwach heimfahren, klingen die Melodien, die wir gehört haben, noch deutlich in unseren Ohren. Wir könnten eine jede singen. Und wie in dem Auge des Getöteten der letzte Blick von dem, was das Auge gesehen, nach eine Zeitlang photographisch dort verweilen soll, so weilten auch hier in der Nacht noch das Getümmel und der Schein des Lebens am Tage, es war nicht verbraust, nicht erloschen. Die Dryade fühlte das und wusste: so braust es auch noch morgen am Tage weiter.
Die Dryade stand zwischen den duftenden Rosen, glaubte sie aus ihrer Heimat wiederzukennen. Rosen aus dem Schlosspark und aus dem Pfarrgarten. Auch die rote Granatblüte sah sie hier. Eine solche hatte Marie in ihrem kohlschwarzen Haar getragen.
Erinnerungen aus der Heimat ihrer Kindheit draußen auf dem Lande blitzten in ihre Gedanken hinein. Das Schauspiel ringsumher sog sie mit der Begierde der Augen ein, während fieberhafte Unruhe sie erfüllte, sie durch die wunderbaren Säle trieb.
Sie fühlte sich ermüdet, und diese Müdigkeit nahm zu. Sie hatte ein Bedürfnis, sich auszuruhen auf den weichen morgenländischen Kissen und Teppichen hier drinnen oder sich mit der Trauerweide hinabzuneigen zu dem klaren Wasser und darin unterzutauchen.
Aber die Eintagsfliege kennt keine Ruhe. In wenigen Minuten war ihr Tag zu Ende.
Ihre Gedanken zitterten, ihre Glieder bebten, sie sank im Gras an dem rinnenden Wasser nieder.
„Du entspringst der Erde mit ewigem Leben!“ sagte sie. „Letze meine Zunge, schenke mir Erquickung!“
„Ich bin kein lebendiges Wasser!“ entgegnete der Bach. „Mich macht eine Maschine springen!“
„Gib mir von deiner Frische, du grünes Gras!“ bat die Dryade. „Gib mir eine von den duftenden Blumen!“
„Wir sterben, wenn wir abgerissen werden!“ sagten Gras und Blumen.
„Küsse mich, du frischer Luftstrom! Nur einen einzigen Lebenskuß!“
„Bald küsst die Sonne die Wolken rot“, sagte der Wind, „und da bist du unter den Toten, bist hingefahren, wie alle Herrlichkeit hier hinfährt, ehe das Jahr um ist. Dann kann ich wieder mit dem leichten, losen Sand hier auf dem Platz spielen, kann Staub über die Erde blasen, Staub in die Luft blasen, Staub, nichts als Staub!“
Die Dryade empfand eine Angst wie die Frau, die im Bade die Pulsader durchgeschnitten hat und verblutet, aber im Verbluten noch zu leben wünscht. Sie erhob sich, trat einige Schritte vor und sank vor einer kleinen Kirche wieder nieder. Die Tür stand offen, auf dem Altar brannten Lichter, die Orgel ertönte. Welch eine Musik! Solche Töne hatte die Dryade noch nie gehört, und doch war es ihr, als höre sie bekannte Stimmen darin. Die kamen aus der Herzenstiefe der ganzen Schöpfung. Sie glaubte das Sausen der alten Eiche zu vernehmen, sie glaubte den alten Geistlichen zu hören, der von großen Taten erzählte, von berühmten Namen und von dem, was Gottes Geschöpfe einer künftigen Zeit als Geschenk geben könnten, geben müssten, um selber dadurch ein bleibendes Leben zu erringen.
Die Töne der Orgel schwollen und klangen, sprachen im Gesang: „Dein Sehnen, deine Lust rissen sich mit der Wurzel aus dem dir von Gott angewiesenen Platz aus. Das ward dein Verderben, arme Dryade!“
Orgeltöne, weiche und sanfte, klangen wie von Tränen erstickt, starben hin in Tränen.
Am Himmel schimmerten die Wolken rot. Der Wind sauste und sang: „Fahret hin, ihr Toten, jetzt geht die Sonne auf!“
Der erste Strahl fiel auf die Dryade. Ihre Gestalt erschien in Farben, wechselnd wie die Seifenblase, wenn sie zerplatzt, verschwindet, ein Tropfen wird, eine Träne, die zur Erde fällt und verschwindet.
Arme Dryade! Ein Tautropfen, nur eine Träne, gekommen, verschwunden!
Die Sonne schien auf die „Fata Morgana“ des Marsfeldes herab, schien herab auf das große bunte Paris, auf den Platz mit den Bäumen und dem plätschernden Springbrunnen zwischen den hohen Häusern, wo der Kastanienbaum stand, aber mit herabhängenden Zweigen und welken Blättern, der Baum, der gestern noch so lebensfrisch aufragte wie der Frühling selber.
Jetzt sei er eingegangen, sagte man.
Die Dryade war eingegangen, war hingefahren wie die Wolke, niemand weiß, wohin.
An der Erde lag eine welke, geknickte Kastanienblüte, das Weihwasser der Kirche vermochte sie nicht ins Leben zurückzurufen. Der Menschenfuß zertrat sie bald im Kies.
Dies alles ist geschehen und erlebt. Wir sahen es selber, in der Ausstellungszeit in Paris 1, in unserer Zeit, in der großen, wunderbaren Zeit des Märchens.
Hintergründe zum Märchen „Die Dryade“
„Die Dryade“ ist ein Märchen des dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen, das erstmals im Jahr 1868 veröffentlicht wurde. Wie viele seiner anderen Werke, basiert auch „Die Dryade“ auf einer Mischung aus Folklore, Mythologie und Andersons eigener Fantasie. Die Hauptfigur der Geschichte ist eine Dryade, ein mythologisches Wesen, das als weiblicher Geist eines Baumes dargestellt wird. Hier sind einige Hintergrundinformationen zum Märchen:
Inspiration: Hans Christian Andersen war von der Natur und ihrem Einfluss auf die menschliche Seele fasziniert. In einigen seiner Märchen finden sich Anspielungen auf Naturgeister, wie zum Beispiel die Dryaden, die als Naturgeister in der griechischen Mythologie eine wichtige Rolle spielten. Die Dryade repräsentiert in der Geschichte die Schönheit und Unschuld der Natur, sowie den Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit.
Die Handlung: Die Geschichte folgt dem Leben einer Dryade, die in einem alten Baum im Wald lebt. Sie träumt davon, die Welt außerhalb des Waldes zu erkunden und die Geheimnisse der Menschen kennenzulernen. Eines Tages erhält sie die Gelegenheit, aus ihrem Baum herauszukommen, und sie erfährt das wahre Leben der Menschen, ihre Freuden und Leiden. Schließlich erkennt sie die Bedeutung von Freiheit und Verantwortung und kehrt zu ihrem Baum zurück, um ihren Platz als Teil der Natur wieder einzunehmen.
Themen: „Die Dryade“ behandelt eine Reihe von Themen, die für Andersen typisch sind, darunter die Sehnsucht nach Freiheit, die Erkundung der Natur, die Suche nach dem wahren Selbst und die Anerkennung der Verantwortung gegenüber der Natur. Die Dryade erfährt während ihrer Reise eine persönliche Entwicklung und erkennt schließlich den Wert des Lebens, das sie führt.
Symbolik: Die Geschichte enthält zahlreiche symbolische Elemente. Der Baum, in dem die Dryade lebt, steht für die Verbindung zwischen der Natur und der menschlichen Welt. Der Wald repräsentiert sowohl die Unschuld als auch das Unbekannte, während die Stadt das menschliche Leben in all seinen Facetten darstellt. Die Dryade selbst symbolisiert die Schönheit und Reinheit der Natur, die durch ihre Neugier und Sehnsucht nach Freiheit herausgefordert wird.
Rezeption: „Die Dryade“ gehört zu den weniger bekannten Märchen von Hans Christian Andersen. Dennoch wurde sie aufgrund ihrer fantasievollen Erzählung und der berührenden Botschaft, die sie vermittelt, von Lesern und Literaturkritikern geschätzt. Die Geschichte bietet eine Reflexion über das Verhältnis zwischen Mensch und Natur und ist ein Beispiel für Andersens meisterhafte Erzählkunst.
Interpretationen zum Märchen „Die Dryade“
Es gibt verschiedene Interpretationen des Märchens „Die Dryade“ von Hans Christian Andersen. Die Geschichte lässt sich auf verschiedenen Ebenen lesen und bietet so Raum für unterschiedliche Deutungen. Hier sind einige Interpretationen, die häufig in der Literaturkritik und von Lesern vorgeschlagen werden:
Die Suche nach Identität und Selbstverwirklichung: In der Geschichte geht es um die Dryade, die sich nach Freiheit sehnt und neugierig auf das Leben außerhalb ihres Baumes ist. Dies kann als Allegorie für die menschliche Suche nach Identität und Selbstverwirklichung verstanden werden. Die Dryade erkundet verschiedene Lebensbereiche und durchläuft dabei eine persönliche Transformation, bis sie schließlich ihre wahre Bestimmung erkennt.
Natur versus Zivilisation: Die Geschichte stellt die Natur und die Zivilisation in Kontrast zueinander. Während die Natur rein und unverdorben ist, sind die menschlichen Städte voller Verführung und Gefahren. Dieses Thema spiegelt die damalige Debatte über die Industrialisierung und ihre Auswirkungen auf die Natur wider.
Die Vergänglichkeit des Lebens: In „Die Dryade“ wird auch das Thema der Vergänglichkeit des Lebens behandelt. Die Dryade wird sich dessen bewusst, dass alles Leben vergänglich ist und dass sie selbst, obwohl sie ein Naturgeist ist, nicht unsterblich ist. Dieses Motiv ist eine Erinnerung daran, das Leben zu schätzen und die Zeit, die uns gegeben ist, sinnvoll zu nutzen.
Verantwortung gegenüber der Natur: Die Geschichte zeigt die Dryade, die sowohl die Schönheit als auch die Zerbrechlichkeit der Natur verkörpert. Indem sie ihre Verantwortung gegenüber ihrem Baum und der Natur im Allgemeinen erkennt, vermittelt die Geschichte die Botschaft, dass Menschen ebenfalls Verantwortung gegenüber der Natur und der Umwelt tragen sollten.
Bildungsroman und innere Reise: „Die Dryade“ kann auch als Bildungsroman gelesen werden, der die persönliche Entwicklung der Protagonistin von Unschuld und Naivität hin zu Reife und Selbstbewusstsein verfolgt. Die Dryade unternimmt eine innere Reise, bei der sie ihre wahren Wünsche und ihren Platz in der Welt erkennt.
Die Dualität von Freiheit und Einschränkung: Die Dryade erlangt vorübergehend ihre Freiheit und entdeckt die Welt außerhalb ihres Baumes. Dabei wird sie jedoch mit den negativen Aspekten der menschlichen Gesellschaft konfrontiert. Die Geschichte zeigt so die Dualität von Freiheit und Einschränkung, die den Wunsch nach Unabhängigkeit und Abenteuer einerseits und die Notwendigkeit von Sicherheit und Stabilität andererseits widerspiegelt.
Jede Interpretation hängt von der persönlichen Sichtweise des Lesers ab, und es ist möglich, dass eine Person mehrere dieser Deutungen gleichzeitig in der Geschichte erkennt. „Die Dryade“ bleibt ein vielschichtiges Märchen, das Raum für unterschiedliche Lesarten bietet.
Adaptionen zum Märchen „Die Dryade“
Obwohl „Die Dryade“ nicht zu den bekanntesten Märchen von Hans Christian Andersen zählt, hat es dennoch einige Adaptionen in verschiedenen Medien erfahren. Hier sind einige Beispiele:
Theaterstücke und Opern: „The Dryad“ ist eine Kammeroper von David Claman, die auf Andersens Märchen basiert und 2008 uraufgeführt wurde. Die Oper konzentriert sich auf die Erfahrungen der Dryade in der menschlichen Welt und ihre Sehnsucht nach Freiheit.
Kinder- und Jugendbücher: „The Tree Girl“ (deutscher Titel: „Das Mädchen im Baum“) von T.A. Barron ist ein Jugendroman, der von Andersens Märchen inspiriert wurde. Die Geschichte handelt von einem Mädchen namens Rowanna, das in einem Wald lebt und sich nach der Welt außerhalb des Waldes sehnt. Die Figur der Dryade spielt in diesem Roman eine wichtige Rolle.
Filmanimationen und Kurzfilme: Obwohl es keine direkte Adaption von „Die Dryade“ als Animationsfilm gibt, sind Naturgeister und die Beziehung zwischen Mensch und Natur ein häufiges Motiv in Animationsfilmen. Ein Beispiel hierfür ist der Film „Prinzessin Mononoke“ (1997) von Hayao Miyazaki, in dem der Konflikt zwischen Mensch und Natur eine zentrale Rolle spielt. Die Figur San, die auch als „Prinzessin der Wolfsgötter“ bezeichnet wird, weist Ähnlichkeiten zur Dryade auf, da sie zwischen der Welt der Menschen und der Natur vermittelt.
Musik: Die Dryaden sind ein wiederkehrendes Motiv in der klassischen Musik und Ballett. Eine berühmte musikalische Darstellung der Dryaden ist „Les Dryades et Pan“ von Camille Saint-Saëns. In diesem Stück aus dem Jahr 1913 wird die Welt der Dryaden in Form eines sinfonischen Gedichts dargestellt.
Bildende Kunst: Die Dryaden sind auch in der bildenden Kunst ein beliebtes Motiv. Ein Beispiel hierfür ist das Gemälde „Hylas and the Nymphs“ (1896) von John William Waterhouse, das die Begegnung zwischen Hylas und den Wassernymphen darstellt. Obwohl es sich bei diesen Figuren um Wassernymphen und nicht um Dryaden handelt, zeigt das Gemälde die Beziehung zwischen menschlichen und mythologischen Wesen, die auch in Andersens Märchen zu finden ist.
Obwohl es nicht viele direkte Adaptionen von „Die Dryade“ gibt, hat das Märchen aufgrund seiner Themen und Motive dennoch einen Einfluss auf verschiedene künstlerische Ausdrucksformen gehabt. Die Faszination für Naturgeister und die Beziehung zwischen Mensch und Natur bleibt ein zentrales Thema in vielen kreativen Werken.
Zusammenfassung der Handlung
„Die Dryade“ ist ein Märchen von Hans Christian Andersen, das die Geschichte einer Dryade erzählt, die in einem alten Baum im Wald lebt. Die Dryade sehnt sich danach, die Welt außerhalb ihres Baumes und die Geheimnisse der Menschen kennenzulernen. Eines Tages erhält sie die Chance, ihren Baum zu verlassen und das Leben der Menschen zu entdecken.
In der Stadt erlebt die Dryade die Freuden und Leiden der Menschen, ihre Kultur und ihre Werte. Zuerst genießt sie die Schönheit der Stadt und der Menschen, ist jedoch auch mit den negativen Seiten des menschlichen Lebens konfrontiert. Als sie an einem Fest teilnimmt, sieht sie die Zerstörung der Natur durch die Menschen und die Entfremdung von ihren Wurzeln.
Die Dryade erkennt schließlich, dass wahre Freiheit auch Verantwortung mit sich bringt, und dass sie ihre Aufgabe als Naturgeist wahrnehmen muss. Sie kehrt zu ihrem Baum zurück und nimmt ihren Platz in der Natur wieder ein. Als sie in ihren Baum zurückkehrt, beginnt sie zu sterben, weil sie nun weiß, dass sie, wie alles Leben, vergänglich ist.
Die Geschichte von „Die Dryade“ ist eine poetische und tiefgründige Erzählung, die die Themen der Suche nach Identität, Freiheit, Verantwortung und die Beziehung zwischen Mensch und Natur behandelt.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
---|---|
Übersetzungen | DE, EN, ES |
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 67.6 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 40.2 |
Flesch-Reading-Ease Index | 51 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 10 |
Gunning Fog Index | 9.7 |
Coleman–Liau Index | 12 |
SMOG Index | 12 |
Automated Readability Index | 11 |
Zeichen-Anzahl | 47.610 |
Anzahl der Buchstaben | 38.286 |
Anzahl der Sätze | 470 |
Wortanzahl | 7.321 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 15,58 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 1800 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 24.6% |
Silben gesamt | 12.115 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,65 |
Wörter mit drei Silben | 1095 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 15% |