Vorlesezeit für Kinder: 32 min
In der Morgendämmerung, in der roten Luft, glänzt ein großer Stern, der hellste Stern des Morgens; sein Strahl zittert auf der weißen Wand, als wollte er dort niederschreiben, was er zu erzählen weiß, was er Jahrtausende hindurch hier und dort auf unserer kreisenden Erde gesehen hat.
Hören wir eine seiner Erzählungen:
„Erst kürzlich – das „kürzlich“ des Stern heißt für uns Menschen „vor Jahrhundernten“ – begleiteten meine Strahlen einen jungen Künstler. Es war in der Stadt der Päpste, in der Weltstadt Rom. Vieles hat sich dort in der Zeiten Lauf verändert, doch nicht so schnell, wie die Menschengestalt vom Kind zum Greis übergeht. Die Kaiserburg war wie heute noch eine Ruine; Feigen- und Lorbeerbäume wuchsen zuwischen den umgestützten Marmorsäulen hin über die zerstörten Badezimmer, die noch mit Gold an den Wänden prangten; das Kolosseum war eine Ruine, die Kirchenglocken läuteten, das Räucherwerk duftete, durch die Straßen schritten Prozessionen mit Kerzen und strahlenden Baldachinen. Kirchenheilig war es hier, und hehr und heilig war die Kunst. In Rom lebte der größte Maler der Welt, Raffael. Es lebte dort der erste Bildhauer des Zeitalters, Michelangelo; selbst der Papst huldigte diesen beiden, beehrte sie mit seinem Besuch. Die Kunst war anerkannt, geehrt und wurde auch belohnt. Allein dessen ungeachtet wurde nicht alles Große und Tüchtige gesehen und bekannt.
In einem engen Gäßchen stand ein altes Haus, einst war es ein Tempel gewesen. Ein junger Künstler wohnte darin, arm war er, unbekannt war er. Er hatte freilich junge Freunde, Künstler wie er, jung von Gemüt, jung im Hoffen und Denken. Sie sagten ihm, er sei reich an Talent und tüchtig, aber er sei ein Narr, dass er nicht selber daran glaube; zerbrach er doch stets, was er in Ton geformt hatte, wurde niemals zufrieden, bekam nie etwas fertig, und das muss man, damit es gesehen und anerkannt werden kann und Geld bringt:
„Du bist ein Träumer!“ sagten sie ferner, „und das ist dein Unglück! Das kommt aber daher, dass du noch nicht gelebt, das Leben noch nicht gekostet hast, es nicht genossen hast in großen gesunden Zügen, wie es genossen werden muss. Gerade in der Jugend kann und muss man sein Ich mit dem Leben verschmelzen, auf dass sie eins werden! Schau den großen Meister Raffael an, den der Papst ehrt, den die Welt bewundert, er ist kein Verächter von Wein und Brot!“
„Er verspeist noch obendrein die Bäckerin, die niedliche Fornarina!“ sagte Angelo, einer der lustigsten jungen Freunde.
Ja, was sagten sie nicht alles, je nach ihrer Jugend und nach ihrem Verstande. Sie wollten den jungen Künstler mit hinausziehen in das lustige, wilde Leben, das tolle Leben, wie man es auch nennen könnte. Und er fühlte auch für Augenblicke Neigung dazu. Er hatte heißes Blut, eine starke Phantasie, er verstand es wohl, in das lustige Gespräch mit einzustimmen, laut zu lachen mit den anderen. Und doch, was sie „Raffaels fröhliches Leben“ nannten, schwand ihm wie der Morgentau, wenn er den Gottesglanz sah, der aus den Bildern des großen Meisters leuchtete, und stand er im Vatikan vor den Schönheitsgestalten, welche die Meister vor Jahrhunderten aus Marmorblöcken geformt hatten, dann hob sich seine Brust, dann vernahm er in seinem Innern etwas so Hohes, Heiliges, Erhebendes, Großes und Gutes, und er wünschte aus dem Marmorblock ebensolche Gestalten zu schaffen, zu meißeln. Er wollte ein Bild schaffen von dem, was sich aus seinem Herzen hinauf zu dem Unendlichen emporschwang, aber wie und in welcher Gestalt? Der weiche Ton gestaltete sich unter seinen Fingern zu Schönheitsformen, doch tags darauf zerbrach er, wie immer, was er geschaffen hatte.
Eines Tages schritt er an einem der reichen Paläste vorüber, deren Rom so viele aufzuweisen hat. Er blieb stehen vor der großen, offenen Einfahrt und sah hier mit Bildern geschmückte Bogengänge, die einen kleinen Garten umschlossen. Der Garten prangte mit einer Fülle der schönsten Rosen. Große weiße Callas mit ihren grünen, saftigen Blättern schossen empor aus dem Marmorbassin, in welchem das klare Wasser plätscherte. Und hier vorüber schwebte eine Gestalt, ein junges Mädchen, die Tochter dieses fürstlichen Hauses, fein, leicht, wunderbar schön! Eine solche Frauengestalt hatte er noch nie gesehen, und doch! gemalt von Raffael, gemalt als Psyche in einem der römischen Paläste. Ja, dort war sie gemalt, hier schritt sie lebendig einher.
In seinen Gedanken, in seinem Herzen lebte sie. Und er ging zurück in sein ärmliches Zimmer und formte in Ton die Psyche, und es war die reiche, junge Römerin, die adlige Jungfrau; zum erstenmal betrachtete er sein Werk mit Befriedigung. Es hatte Bedeutung für ihn, es war sie. Und die Freunde, die es sahen, jubelten vor Freude. Dieses Werk war eine Offenbarung seiner Künstlergröße, die sie im voraus erkannt hatten, jetzt sollte auch die Welt sie erkennen.
Der Ton ist zwar fleischig und lebendig, er besitzt aber nicht die Weiße und Dauer des Marmors; zum Leben in Marmor musste diese Psyche gelangen, und den kostbaren Marmorblock besaß er schon, der lag schon seit Jahren als Eigentum der Eltern im Hof; Glasscherben, Fenchelkraut, Überbleibsel von Artischocken häuften sich über ihn und beschmutzten ihn, aber im Innern war der Block wie der Schein des Berges; aus diesem Marmor sollte die Psyche entstehen.
Eines Tages nun geschah es – ja, der helle Stern erzählt nichts davon, er sah es nicht, wir aber wissen es -, dass eine vornehme römische Gesellschaft in die enge, unansehnliche Gasse kam. Die Equipage hielt am Anfang der Gasse, die Gesellschaft begab sich zu Fuß zu dem Haus, um die Arbeit des jungen Künstlers zu sehen, sie hatten zufällig davon gehört. Und wer waren die vornehmen Gäste? Armer junger Mann! Gar zu glücklicher junger Mann könnte er auch genannt werden. Die junge Adelige selber stand hier im Zimmer, und mit welchem Lächeln, als ihr Vater sagte: „Du bist es, wie du leibst und lebst!“ Das Lächeln kann nicht geformt, der Blick nicht wiedergegeben werden, der wunderbare Blick, mit dem sie den Künstler ansah; es war ein Blick, erhebend, adelnd und – zermalmend.
„Die Psyche muss in Marmor ausgeführt werden!“ sagte der reiche Herr. Und das waren Lebensworte für den toten Ton und den schweren Marmorblock, wie es Lebensworte für den tief ergriffenen jungen Mann waren. „Wenn die Arbeit vollendet ist, kaufe ich sie!“ sagte der fürstliche Herr.
Es war, als rollte eine neue Zeit herauf in der ärmlichen Werkstatt; Leben und Fröhlichkeit leuchteten, emsiger Fleiß schaffte darin. Der strahlende Morgenstern sah, wie die Arbeit fortschritt. Der Ton selber war wie beseelt, seitdem sie dagewesen war, er formte sich in erhöhter Schönheit zu den bekannten Zügen.
„Jetzt weiß ich, was Leben ist!“ jubelte der Künstler, „es ist Liebe! Es ist erhabene Hingebung an das herrliche, entzückende Aufgehen im Schönen! Das, was die Freunde Leben und Genuß nennen, ist vergängliches Wesen, sind Blasen der gärenden Hefe, ist nicht der reine, himmlische Altarwein, der zum Leben weiht.
Der Marmorblock wurde aufgestellt. Der Meißel schlug große Stücke von ihm ab. Da wurde gemessen, Punkte und Zeichen wurden gemacht, das Handwerksmäßige ausgeführt, bis nach und nach der Stein sich in Körper, in Schönheitsgestalt, in die Psyche verwandelte, schön und herrlich, wie das Gottesbild in der Jungfrau. Der schwere Stein wurde schwebend, tanzend, luftgleich, eine anmutige Psyche mit dem himmlisch unschuldigen Lächeln, die dieses sich im Herzen des jungen Bildhauers gespiegelt hatte.
Der Stern des rosenfarbenen Morgens sah und begriff wohl, was sich in dem jungen Mann regte, begriff die wechselnde Färbung seiner Wangen, den Blitz, der aus seinem Auge schoss, während er schaffte, während er das wiedergab, was Gott gegeben hatte.
„Du bist ein Meister wie die der alten Griechen!“ sagten die entzückten Freunde. „Bald wird die ganze Welt deine Psyche bewundern!“
„Meine Psyche!“ wiederholte er. „Meine! Ja, sie muss es werden! Auch ich bin ein Künstler, wie jene großen Verblichenen! Gott hat mir das Gnadengeschenk gewährt, mich hoch gehoben wie die Edelgeborene!“
Und er kniete nieder, weinte im Dankgebet zu Gott – und vergaß Gott wieder ihretwegen, ihres Bildes in Marmor, der Psychegestalt werden, die wie aus Schnee geformt dastand, in der Morgensonne errötend.
In Wirklichkeit sollte er sie sehen, die Lebende, Schwebende, sie, deren Worte wie Musik klangen. In dem reichen Palast konnte er nun die Nachricht bringen, dass die Marmorpsyche vollendet sei. Er trat dort ein, schritt durch den offenen Hof, wo das Wasser aus den Delphinen in die Marmornen Bassins hinabplätscherte, wo die Callas blühten und die frischen Rosen in reicher Fülle sprossen. Er trat in die große, hohe Vorhalle, deren Wände und Decken in Farben prangen, mit Wappenzeichen und Bildern, Geputzte Diener, stolz und geziert, wie Schlittenpferde mit Schellen behangen, gingen hier auf und ab, einige streckten sich auch gemächlich und übermütig, auf den geschnitzten Holzbänken aus, als seien sie die Herren des Hauses. Er sagte Ihnen, was ihn in den Palast führte, und wurde die blanken, marmornen, mit weichen Teppichen belegten Treppen hinaufgeführt. Zu beiden Seiten standen Statuen, er schritt durch reich geschmückte Zimmer mit Bildern und glänzenden Mosaikfußböden. All dieser Glanz und diese Pracht machten ihm den Atem schwer, aber bald fühlte er sich wieder leicht. Der alte fürstliche Herr empfing ihn gar freundlich, fast herzlich, und als er sich von ihm verabschiedete, wurde er gebeten, bei der Signora einzutreten, auch sie wünsche, ihn zu sehen. Der Diener führte ihn durch prachtvolle Zimmer, wo sie selber die Pracht und Herrlichkeit war.
Sie sprach zu ihn. Kein Miserere, kein Kirchengesang hätte das Herz so schmelzen, die Seele höher erheben können als ihre Rede. Er ergriff ihre Hand, drückte sie an seine Lippen. Keine Rose war so weich, aber es ging ein Feuer von dieser Rose aus, ein Feuer! Ein erhebendes Gefühl durchströmte ihn. Es flossen Worte von seiner Zunge, er wusste selber nicht, welche. Weiß der Krater, dass er glühende Lava speit? Er gestand ihr seine Liebe. Sie stand überrascht, beleidigt, stolz da, mit einem Hohn in ihren Mienen, ja, mit einem Ausdruck, als hätte sie plötzlich einen nassen, kalten Frosch berührt, ihre Wangen röteten sich, ihre Lippen wurden blaß, ihre Augen waren Feuer und dennoch schwarz, wie die Finsternis der Nacht.
„Wahnsinniger!“ sprach sie. „Fort! Hinab!“ Und sie kehrte ihm den Rücken zu. Das Antlitz der Schönheit hatte einen Ausdruck, der jenem versteigerten Antlitz mit den Schlangenhaaren ähnlich war.
Einem sinkenden leblosen Gegenstand gleich wankte er die Treppen hinab, auf die Straße hinaus. Wie ein Schlaftrunkener erreichte er seine Wohnung und erwachte in Raserei und Schmerz, ergriff seinen Hammer, hob ihn hoch in die Luft und wollte das schöne Marmorbild zermalmen, allein in seinem Zustand hatte er nicht bemerkt, dass der Freund Angelo neben ihm stand. Dieser hielt mit einem kräftigen Griff seinen Arm zurück.
„Bist du rasend?“ Was beginnst du?“
Sie rangen miteinander; Angelo war der stärkere, und ermattet, mit tiefem Atemzug warf der junge Künstlich sich auf einen Stuhl nieder.
„Was ist geschehen?“ fragte Angelo. „So fasse dich doch! Sprich!“
Doch was konnte er sagen!“ Und da Angelo den Redeknäuel nicht zu entwirren vermochte, ließ er davon ab.
„Dickes Blut bekommst du bei dieser ewigen Träumerei!“ Sei doch ein Mensch, wie die anderen es sind, lebe nicht immerfort in Idealen, man schnappt über dabei! Ein Weinräuschchen, und du schläfst glücklich ein! Lassein schönes Mädchen deinen Arzt sein! Die Mädchen der Campagna sind schön wie die Prinzessin im Marmorschloss; beide sind Evastöchter und im Paradies nicht zu unterscheiden! Folge du deinem Angelo! Dein Engel bin ich, ein Engel des Lebens! Die Zeit wird kommen, wo du alt wirst und der Körper zusammensinkt, und dann an einem schönen, sonnigen Tag, wenn alles lacht und jubelt, liegst du da, ein welker Halm, der nicht mehr wächst! Ich glaube nicht, was die Priester sagen von einem Leben jenseits des Grabes, das ist eine schöne Einbildung, ein Märchen für Kinder, ganz hübsch, wenn man es sich eben einbilden kann. ich lebe aber in der Wirklichkeit! Komm mit mir! Sei ein Mensch!“
Und es zog ihn mit sich, er konnte es in diesem Augenblick; Feuer sprühte im Blut des jungen Künstlers, in seiner Seele war eine Veränderung vorgegangen,er fühlte einen Drang, sich loszureißen von dem Alten, dem Gewohnten, sich aus seinem eigenen alten bisherigen Ich herauszureißen, und heute also folgte er Angelo.
In einer entlegenen Gegend vom Rom lag eine von Künstlern besuchte Osteria, in die Ruine einer alten Badekammer hineingebaut. Die großen gelben Zitronen hingen zwischen dem dunkel glänzenden Laub und verdeckten einen Teil der alten rotgelben Mauern. Die Osteria war ein tiefes Gewölbe, fast einer Höhle gleich in den Ruinen. Drinnen brannte eine Lampe vor dem Madonnenbild, ein großen Feuer loderte auf dem Herd, hier wurde gekocht und gebraten. Draußen, unter den Zitronen- und Lorbeerbäumen standen einige reich gedeckte Tische.
Beide wurden von den Freunden mit Jubel empfangen. Wenig aß man, viel trank man, das erhöhte die Fröhlichkeit. Es wurde gesungen, Gitarre gespielt, der Saltarello erklang, und der lustige Tanz begann. Zwei junge Römerinnen, Modelle der jungen Künstler, nahmen teil an dem Tanz und an der Fröhlichkeit: zwei allerliebste Bacchantinnen! Freilich keine Psychegestalten, keine feinen, schönen Rosen, sondern frische, kräftige, glühende Nelken.
Wie war es an diesem Tag heiß. Feuer im Blut, Feuer in der Luft, Feuer in jedem Blick. Die Luft leuchtete in Gold und Rosen, das Leben war Gold und Rosen.
„Endlich bist du mal dabei! Lassdich nur tragen von den Fluten um dich und in dir!“
„Noch nie war ich so gesund, so fröhlich!“ sagte der junge Künstler. „Du hast recht, ihr habt alle recht, ich war ein Narr, ein Träumer, der Mensch gehört in die Wirklichkeit und nicht in die Phantasie!“
Mit Gesang und klingenden Gitarren zogen die jungen Leute an dem sternhellen Abend von der Osteria durch die kleinen Gassen. Die beiden glühenden Nelken, Töchter der Campagna zogen mit ihnen.
In Angelos Zimmer, zwischen umhergestreuten Farbskizzen, hingeworfenen Foglietten und glühenden, üppigen Bildern klangen die Stimmen gedämpfter, aber nicht weniger lebhaft. Auf dem Fußboden lag manches Blatt, das den Töchtern der Campagna in ihrer wechselnden, kräftigen Schönheit gar ähnlich war, und doch waren sie selber weit schöner. Der sechsarmige Leuchter ließ alle seine Dochte flammen und leuchten. Und vom Innern flammte und leuchtete die Menschengestalt als Gottheit heraus.
„Apollo! Jupiter! In euren Himmeln, in eure Herrlichkeit werde ich emporgehoben! Mir ist, als ginge die Blüte des Lebens in diesem Augenblick in meinem Herzen auf!“
Ja, sie ging auf – nickte , fiel, und ein hässlicher Dunst wirbelte heraus, blendete das Gesicht, betäubte die Gedanken. Das Feuerweg der Sinne erlosch, und es ward finster.
Er befand sich wieder in seinem eigenen Zimmer; hier setzte er sich auf sein Bett und sammelte sich. „Pfui!“ klang es aus seinem eigenen Mund, aus seinem Herzensgrund. „Elender! Fort! Hinab!“ und ein tiefer, schmerzlicher Seufzer entrang sich seiner Brust.
„Fort! Hinab!“ Diese ihre Worte, die Worte der lebenden Psyche, klangen in seinem Innern, tönten von seinen Lippen. Er drückte seinen Kopf in die Kissen, die Gedanken wurden unklar, er schlief ein.
In der Morgendämmerung fuhr er auf, sammelte sich aufs neue. Was war geschehen? Hatte er das alles geträumt? Den Besuch bei ihr geträumt, den Besuch in der Osteria, den Abend mit den purpurnen Nelken der Campagna geträumt? – Nein, alles war Wirklichkeit, die ihm früher unbekannt gewesen war.
In der purpurnen Luft strahlte der klare Stern, sein Strahl fiel auf ihn und die Marmorpsyche. Er selber zitterte, als er das Bild der Unvergänglichkeit betrachtete, unrein schien ihm sein Blick. Er warf das Tuch über die Statur, noch einmal berührte er es, um die Gestalt zu entschleiern, allein er vermochte es nicht, sein Werk zu betrachten.
Still, finster, in sich selber versunken, blieb er sitzen den lieben langen Tag. Er vernahm nichts von dem, was sich draußen bewegte. Niemand wusste, was sich drinnen, in dieser Menschenbrust bewegte.
Tage, Wochen vergingen. Die Nächte waren am längsten. Der blitzende Stern sah ihn eines Morgens blaß, fieberhaft sich vom Lager erheben, auf das Marmorbild hinschreiten, die Hülle zurückschlagen, einen langen, schmerzlichen Blick auf sein Werk werden und dann, fast unter der Last zusammenbrechend, die Statue in den Garten hinausschleppen. Dort befand sich ein ausgetrockneter Brunnen, jetzt eher ein Loch, in dieses senkte er die Psyche hinab, warf Erde über Sie, deckte Reisig und Nesseln über die Stätte.
„Fort! Hinab!“ lautete die kurze Grabrede.
Der Stern gewahrte es aus der rosenroten Luft, und sein Strahl zitterte in zwei großen Tränen auf den todblassen Wangen des jungen Mannes, des Fiebernden – des Todkranken, sagten sie, als er auf dem Siechbette lag.
Der Klosterbruder Ignatius besuchte ihn als Freund und als Arzt, brachte ihm Trostesworte der Religion, sprach von dem Frieden und dem Glück der Kirche, von der Sünde der Menschen, von der Gnade und dem Frieden in Gott.
Und die Worte fielen gleich wärmenden Sonnenstrahlen auf den gärenden Boden; der dampfte und entsandte Nebelwolken, Gedankenbilder, Bilder die ihre Wirklichkeit hatten. Und von diesen schwimmenden Inseln schaute der Kranke über das Menschenleben hin. Fehlgriffe, Täuschungen waren es, waren es auch für ihn gewesen. Die Kunst war eine Hexe, die in uns Eitelkeit, irdische Gelüste hineintrug. Falsch waren wir gegen uns selbst, gegen unsere Freunde, falsch gegen Gott. Die Schlange sprach immer in uns: „Iß, und du sollst werden wie Gott!“
Nun erst schien es ihm, als habe er sich selber verstanden, den Weg zur Wahrheit und zum Frieden gefunden. In der Kirche war das Licht und die Helle Gottes, in der Mönchszelle die Ruhe, durch die der Menschenbaum in die Ewigkeit hineinwachsen konnte.
Bruder Ignatius stärkte seinen Sinn, und der Entschluß wurde fest in ihm. Ein Weltkind wurde ein Diener der Kirche, der junge Künstler entsagte der Welt, ging ins Kloster.
Liebevoll kamen ihm die Brüder entgegen, und sonntagsfestlich war die Einweihung. Gott, so schien es ihm, war in dem Sonnenschein der Kirche, strahle von den heiligen Bildern und dem glänzenden Kreuze. Und als er nun am Abend beim Sonnenuntergang in seiner kleinen Zelle stand und das Fenster öffnete, über das alte Rom hinausblickte, über die zerstörten Tempel, das große, aber tote Kolosseum, und als er dies alles im Fühlungskleid sah, die Akazien blühten, das Immergrün war frisch, die Rosen sproßten überall hervor, Zitronen und Orangen prangten, die Palmen fächelten, da fühlte er sich ergriffen und erfüllt wie noch nie. Die offene, stille Campagna dehnte sich aus bis zu den blauen, schneebedeckten Bergen, diese schienen in die Luft gemalt zu sein: alles verschmolz ineinander, Frieden und Schönheit atmend, schwimmend, träumend – ein Traum das Ganze!
Ja, ein Traum war die Welt hier, und der Traum waltet stundenlang und kann für Stunden wiederkehren, aber das Klosterleben ist ein Leben von Jahren, langen und vielen Jahren.
Von innen kommt vieles, was den Menschen unrein macht, das fand er bestätigt! Welche Flammen durchloderten ihn manchmal! Welche Quelle des Bösen, das er nicht wollte, quoll immerfort! Er strafte seinen Leib, aber von innen kam das Böse. Ein Teilchen des Geistes in ihm wand sich geschmeidig wie die Schlange um sich selbst und kroch mit seinem Gewissen unter den Mantel der Alliebe und tröstete: die Heiligen beten für uns, die Mutter betet für uns, Jesus selber hat sein Blut für uns hingegeben. War es ein kindlich Gemüt oder der Jugend leichter Sinn, der sich der Gnade gab und sich durch sie erhoben fühlte, erhoben über viele. Denn er hatte ja die Eitelkeit der Welt von sich gestoßen, er war ja ein Sohn der Kirche.
Eines Tages, nach Verlauf vieler Jahre, begegnete ihm Angelo, der ihn erkannte.
„Mensch!“ rief Angelo, „ja, du bist es! Bist du jetzt glücklich? Du hast gesündigt gegen Gott und sein Gnadengeschenk von dir geworfen, deine Mission in dieser Welt verscherzt. Lies die Parabel von dem anvertrauten Pfunde! Der Meister, der sie erzählte, sprach die Wahrheit! Was hast du gewonnen, was gefunden? Legst du dir nicht ein Traumleben, legst du dir nicht eine Religion zurecht nach deinem Kopfe, wie sie es wohl alle tun? Wenn nun alles ein Traum, eine Phantasie, ein schöner Gedanke nur wäre!“
„Weiche von mir, Satan!“ sprach der Mönch und verließ Angelo.
„Es gibt einen Teufel, einen Teufel in Menschengestalt! Heute sah ich ihn!“ sprach der Mönch vor sich hin. „Ich reichte ihm einst einen Finger, er nahm meine ganze Hand“ Nein!“ seufzte er, „in mir selber ist das Böse, und in jenem Menschen ist das Böse, aber es beugt ihn nicht, er geht mit freier Stirn umher, genießt sein Wohlsein. Und ich hasche nach meinem Wohlsein im Trost der Religion! Wenn sie nur Trost wäre? Wenn alles hier, wie die Welt, die ich verließ, nur schöne Gedanken wären, Täuschungen, wie die Schönheit der roten Abendwolken, wie das wallende Blau der fernen Berge! In der Nähe sind sie anders! Ewigkeit, du bist wie der große, unendliche, meeresstille Ozean, der winkt und ruft, uns mit Ahnungen erfüllt, und steigen wir hinaus auf ihn, dann sinken wir, verschwinden – sterben – hören auf zu sein! – Täuschung! Fort! Hinab!
Und ohne Tränen, in sich selber versunken, saß er auf seinem harten Lager, kniete nieder – vor wem? Vor dem steinernen Kreuz in der Mauer? Nein, die Gewohnheit ließ den Körper diese Lage einnehmen.
Je tiefer er sich bückte, desto finsterer schien es ihm dort. „Nichts innen, nichts außen! Vergeudet dieses Leben!“ Und dieser Gedankenschneeball rollte, wuchs, zermalmte ihn – löschte ihn aus.
„Niemandem darf ich mich anvertrauen, zu niemandem von diesem nagenden Wurm hier innen sprechen! Mein Geheimnis ist mein Gefangener, lasse ich ihn entschlüpfen, bin ich der seine!“
Und die Gotteskraft, die ihm innewohnte, litt und stritt.
„O Herr, mein Herr!“ rief er in seiner Verzweiflung, „sei barmherzig, schenke mir den Glauben! Dein Gnadengeschenk war ich von mir, meine Mission ließ ich unerfüllt! Mir fehlte die Kraft, du gabst sie mir nicht. Die Unsterblichkeit, die Psyche in meiner Brust – fort, hinab! Begraben soll sie werden wie jene Psyche, mein bester Lebensstrahl! Nimmer ersteht sie aus dem Grabe!“
Der Stern in der rosenroten Luft leuchtete, der Stern, der gewiss verlöschen und vergehen wird, während die Seele lebt und leuchtet; sein zitternder Strahl fiel auf die weiße Wand, aber keine Schrift setzt er dorthin von der Herrlichkeit Gottes, von der Gnade, von der Alliebe, welche in der Brust des Gläubigen klingt.
„Die Psyche hier innen wird nimmer sterben! Leben im Bewußtsein? Kann das Unfaßliche geschehen? Ja! Ja! Unfaßlich ist mein Ich. Unfaßlich bist du, o Herr! Deine ganze Welt ist unfaßlich ein Wunderwerk an Macht, Herrlichkeit – Liebe!“
Seine Augen leuchteten, seine Augen brachen. Der Klang der Kirchenglocken war der letzte Laut über ihm, dem Toten. Und man senkte ihn in Erde, die von Jerusalem geholt und mit dem Staub von frommen Toten gemischt war.
Nach Jahren hob man das Skelett heraus, wie es mit den vor im gestorbenen Mönchen geschehen war, man bekleidete es mit einer braunen Kutte, gab ihm eine Perlenschnur in die Hand und stellte es in die Reihen anderer Menschengebeine, die in den Grabgewölben des Klosters gefunden wurden. Und draußen schien die Sonne, drinnen dufteten die Räuchergefäße, wurden die Messen gelesen.
Jahre vergingen. Die Gebeine fielen auseinander; Totenköpfe wurden aufgestellt, sie bildeten eine ganze äußere Mauer der Kirche. Dort stand auch sein Kopf in der sengenden Sonne, gar viele Tote waren dort, niemand kannte jetzt ihre Namen, auch den seinen nicht. Und siehe, im Sonnenschein bewegte sich etwas Lebendiges in den beiden Augenhöhen, was mochte das sein? Eine bunte Eidechse sprang in dem holen Schädel umher, huschte aus und ein durch die leeren, großen Augenhöhlen. Die Eidechse war jetzt das Leben in dem Kopf, in welchem einst große Gedanken, helle Träume, die Liebe zur Kunst und zum Herrlichen sich erhoben hatte, von wo heiße Tränen herabgerollt waren und wo die Hoffnung auf Unsterblichkeit gelegt hatte. Die Eidechse sprang, verschwand. Der Schädel zerbröckelte, ward Staub im Staube.
Es war Jahrhunderte später. Der helle Stern leuchtete unverändert, klar und groß, wie seit Jahrtausenden, die Luft leuchtete rot, frisch wie Rosen, purpurn wie Blut.
Dort, wo einst eine enge Gasse mit den Überresten eines Tempels gewesen war, lag jetzt ein Nonnenkloster. In dem Garten des Klosters wurde ein Grab gegraben, eine junge Nonne war gestorben und sollte an diesem Morgen in die Erde gebettet werden. Der Spaten stieß gegen einen Stein, der Stein leuchtete blenden weiß. Marmor kam zu Vorschein, er rundete sich zu einer Schulter, die allmählich ganz hervortrat. Der Spaten wurde nun vorsichtiger geführt. Ein weiblicher Kopf kam zu Tage – Schmetterlingsflügel! Aus dem Grab, in welches die junge Nonne gelegt werden sollte, hob man an dem rosenroten, flammenden Morgen eine wunderherrliche Psychegestalt, gemeißelt in weißen Marmor. „Wie schön, wie vollendet ist sie, ein Kunstwerk aus der besten Zeit!“ sagte man. Wer mochte der Meister sein? Niemand wusste es, niemand kannte ihn als der helle, durch Jahrtausende leuchtende Stern. Der kannte den Gang seines Erdenlebens, seine Prüfung, seine Schwäche, wusste, dass er eben nur ein Mensch gewesen war! Aber der war tot, verweht, wie der Staub es sein muss und soll, doch die Ausbeute seines besten Strebens, das Herzlichste, was das Göttliche in ihm bekundete, die Psyche, die niemals stirbt, die den Nachruhm überstrahlt, der Glanz dieser Psyche hier auf Erden, der blieb hier, wurde gesehen, erkannt, bewundert und idealisiert.
Der klare Morgenstern in der rosenfarbenen Luft sandte seinen blitzenden Strahl hernieder auf die Psyche und auf die in Glückseligkeit lächelnden Lippen und Augen der Bewunderer, welche die Seele sahen, gemeißelt aus dem Marmorblock.
Was irdisch ist, verweht, wird vergessen, nur der Stern im Unendlichen weiß davon. Was himmlisch ist, strahlt selbst im Nachruhm, und wenn der Nachruhm erlischt lebt noch die Psyche.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
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Übersetzungen | DE, EN, ES |
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 72.2 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 38 |
Flesch-Reading-Ease Index | 57.2 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 8.9 |
Gunning Fog Index | 9 |
Coleman–Liau Index | 12 |
SMOG Index | 11.4 |
Automated Readability Index | 9.8 |
Zeichen-Anzahl | 26.742 |
Anzahl der Buchstaben | 21.292 |
Anzahl der Sätze | 289 |
Wortanzahl | 4.182 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 14,47 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 985 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 23.6% |
Silben gesamt | 6.673 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,60 |
Wörter mit drei Silben | 588 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 14.1% |