Vorlesezeit für Kinder: 27 min
Woher haben wir die Geschichte?
Willst du es wissen?
Wir haben sie aus der Tonne, aus der mit dem alten Papier.
Manch ein gutes und seltenes Buch ist zum Fettwarenhändler und zum Gewürzkrämer gewandert, nicht als Lektüre, sondern als Gebrauchsartikel. Die müssen Papier gebrauchen zu Tüten für Stärke und Kaffeebohnen, Papier für gesalzene Heringe, Butter und Käse. Geschriebene Sachen sind auch brauchbar.
Oft wandert in die Bütte, was nicht in die Bütte wandern sollte.
Ich kenne einen Krämerlehrling, den Sohn eines Fettwarenhändlers. Er ist vom Keller in das Erdgeschoss aufgestiegen, ein Mensch, der viel gelesen hat, Tütenlektüre, die gedruckte und die geschriebene. Er hat eine interessante Sammlung, und darin sind mehrere wichtige Aktenstücke aus dem Papierkörben dieses und jenes überarbeiteten, zerstreuten Beamten; manch ein vertraulicher Brief von einer Freundin an die Freundin: Skandalmitteilungen, die nicht weitergehen dürften, von niemand erwähnt werden sollten. Er ist eine lebende Rettungsanstalt für einen großen Teil der Literatur, er hat den Laden der Eltern und des Prinzipals und hat da manch ein Buch oder Blätter von einem Buch gerettet, die wohl verdienen könnten, zweimal gelesen zu werden.
Er hat mir seine Sammlung von gedruckten und geschriebenen Sachen aus der Bütte gezeigt, am reichsten war die Sammlung aus der Bütte des Fettwarenhändlers. Da lagen ein paar Blätter aus einem größeren Schreibheft. Die außerordentlich schöne und deutliche Handschrift zog gleich meine Aufmerksamkeit auf sich.
„Das hat der Student geschrieben“, sagte er, „der Student, der hier gerade gegenüber wohnte und vor einem Monat starb. Er hat an schrecklichen Zahnschmerzen gelitten, das sieht man aus seinen Aufzeichnungen. Das ist ganz amüsant zu lesen. Es ist nur noch wenig von dem Geschriebenen da, es war ein ganzes Buch und noch ein bisschen mehr; meine Eltern gaben der Wirtin des Studenten ein halbes Pfund grüne Seife dafür. Dies ist alles, was ich gerettet habe.“
Ich lieh es, ich las es und jetzt erzähle ich es.
Die Überschrift lautete:
I
Tante gab mir süße Näschereien, als ich klein war. Meine Zähne hielten es aus, wurden nicht schlecht dadurch. Jetzt bin ich älter geworden, bin Student. Sie verhätschelt mich noch immer mit Süßigkeiten, sagt, dass ich ein Dichter bin.
Ich habe etwas vom Poeten in mir, aber nicht genug. Oft, wenn ich in den Straßen der Stadt gehe, ist es mir, als ginge ich in einer großen Bibliothek. Die Häuser sind Bücherregale, jedes Stockwerk ist ein Brett mit Büchern. Dort steht eine gute, alte Komödie, dort stehen wissenschaftliche Werke aus allen Fächern, hier Schnitzliteratur und gute Lektüre. Ich kann über alle die Bücher phantasieren und philosophieren.
Es ist etwas vom Poeten in mir, aber nicht genug. Manche Menschen haben gewiss ebenso viel davon in sich und tragen doch kein Schild oder Halsband mit dem Namen Poet.
Ihnen wie mir ist eine Gabe Gottes gegeben, ein Segen, groß genug an sich, aber zu klein, um ausgestückt und an andre gegeben zu werden. Es kommt ganz plötzlich, wie ein Sonnenstrahl, füllt die Seele und den Gedanken, es kommt wie ein Blumenduft, wie eine Melodie, die man kennt, ohne doch zu wissen, woher sie kommt.
Neulich abends saß ich in meinem Zimmer, hatte Verlangen, etwas zu lesen, hatte kein Buch, kein Blatt, da fiel ein grünes Blatt vom Lindenbaum. Der Wind trug es zum Fenster, zu mir herein.
Ich betrachtete die vielen verzweigten Adern. Ein kleiner Wurm bewegte sich darüber hin, als wollte er ein gründliches Studium des Blattes unternehmen.
Da musste ich an Menschenweisheit denken, wir krabbeln auch auf dem Blatt umher, kennen nur das, aber halten sofort einen Vortrag über den ganzen großen Baum, die Wurzeln, den Stamm und die Krone. Über den großen Baum: Gott, die Welt und die Unsterblichkeit, und kennen von dem ganzen Baum nur ein kleines Blatt.
Wie ich so dasaß, bekam ich Besuch von Tante Mille.
Ich zeigte ihr das Blatt mit dem Wurm, sagte ihr meine Gedanken dabei, und ihre Augen leuchteten.
„Du bist ein Dichter“, sagte sie, „vielleicht der größte, den wir haben! Wenn ich das erleben sollte, dann gehe ich gern in mein Grab. Du hast mich seit Brauer Rasmussens Begräbnis immer durch deine mächtige Phantasie in Erstaunen versetzt.“
Das sagte Tante Mille, und dann küsste sie mich.
Wer war Tante Mille, und wer war Brauer Rasmussen?
II
Muters Tante wurde von uns Kindern Tante genannt, wir hatten keinen anderen Namen für sie.
Sie gab uns Eingemachtes und Zucker, obwohl das sehr schlecht für unsere Zähne war, aber sie war den süßen Kindern gegenüber schwach, das sagte sie selber. Es sei ja grausam, ihnen das bisschen Süße vorzuenthalten, das sie doch so sehr liebten.
Und daher hatten wir Tante so lieb.
Sie war ein altes Fräulein, solange ich mich erinnern kann, immer alt! Sie stand im Alter still.
In früheren Jahren litt sie sehr an Zahnschmerzen und sprach immer davon, und dann war Ihr Freund, Brauer Rasmussen, witzig und nannte sie Tante Zahnweh.
Während der letzten Jahre braute er nicht mehr, er lebte von seinen Zinsen, kam oft zu Tante und war älter als sie. Er hatte gar keine Zähne, nur ein paar schwarze Stummel.
Als kleiner Junge habe er zuviel Zucker gegessen, sagte er zu uns Kindern, und dann würde man so aussehen.
Tante hatte als Kind gewiss niemals Zucker gegessen, sie hatte die schönsten weißen Zähne.
Sie gehe auch sparsam damit um, schlafe des Nachts nicht mit ihren Zähnen, sagte Brauer Rasmussen.
Das war eine Bosheit, das wussten wir Kinder, er dachte sich aber nichts dabei.
Eines Vormittags, beim Frühstück, erzählte sie einen schrecklichen Traum. Sie hatte in der Nacht geträumt, dass einer ihrer Zähne ausgefallen war.
„Das bedeutet“, sagte sie, „dass ich einen wahren Freund oder eine Freundin verlieren werde!“
„War es ein falscher Zahn“, sagte der Brauer lächelnd, „dann kann es nur bedeuten, dass Sie einen falschen Freund verlieren!“
„Sie sind ein unhöflicher alter Herr!“ sagte Tante so erzürnt, wie ich sie niemals, weder früher noch später, gesehen habe.
Später sagte sie, es sei nur eine Neckerei von ihrem alten Freund, er sei der edelste Mensch auf der Welt, und wenn er einmal stürbe, würde er ein kleiner Engel Gottes im Himmel werden.
Ich dachte viel über die Verwandlung nach und ob ich wohl imstande sein würde, ihn in der neuen Gestalt zu erkennen.
Als die Tante jung war und er auch jung war, hielt er um ihre Hand an. Sie besann sich zu lange, blieb sitzen, blieb zu lange sitzen, wurde ein altes Fräulein, blieb aber immer eine treue Freundin.
Und dann starb Brauer Rasmussen.
Er wurde im teuersten Leichenwagen zu Grabe geführt und hatte ein großes Gefolge, Leute mit Orden und in Uniformen.
Tante stand in Trauerkleidern am Fenster mit uns Kindern allen, den kleinen Bruder ausgenommen, den der Storch vor einer Woche gebracht hatte.
Nun waren der Leichenwagen und das Gefolge vorüber, die Straße war leer, die Tante wollte gehen, aber das wollte ich nicht, ich wartete auf den Engel, Brauer Rasmussen. Er war ja jetzt ein kleines, beschwingtes Kind Gattes geworden und musste nun erscheinen.
„Tante!“ sagte ich. „Glaubst du nicht, dass er jetzt kommt? Oder dass, wenn der Storch uns wieder einen kleinen Bruder bringt, er uns dann den Engel Rasmussen bringt?“
Tante war ganz überwältigt von meiner Phantasie und sagte: „Das Kind wird ein großer Dichter!“ Und das wiederholte sie während meiner ganzen Schulzeit, ja nach meiner Konfirmation und auch jetzt noch, wo ich Student bin.
Sie war und ist meine treueste Freundin, sowohl in Dichterschmerzen als auch in Zahnschmerzen. Ich habe ja Anfälle von beiden.
„Schreibe nur alle deine Gedanken nieder“, sagte sie, „und lege sie in die Tischschublade. Das tat Jean Paul: er wurde ein großer Dichter. Ich mag ihn freilich nicht, er ist nicht spannend genug! Du musst spannend sein! Und du wirst spannen!“
In der Nacht nach dieser Rede lag ich in großer Sehnsucht und Schmerzen, in Drang und Lust, der große Dichter zu werden, den Tante in mir sah und spürte. Ich lag in Dichterschmerzen, aber es gibt noch einen schlimmeren Schmerz: das Zahnweh. Das wühlte und bohrte in mir. Ich ward ein sich windender Wurm mit Kräuterkissen und spanischer Fliege.
„Das kenne ich!“ sagte die Tante.
Ein Lächeln des Kummers umspielte ihren Mund. Ihre Zähne schimmerten so weiß.
Aber ich muss einen neuen Abschnitt in meiner Geschickte und der Geschichte meiner Tante anfangen.
III
Ich war in eine neue Wohnung gezogen und hatte da während eines Monats gewohnt. Hierüber sprach ich mit Tante.
„Ich wohne bei einer stillen Familie. Sie denkt nicht an mich, selbst nicht, wenn ich dreimal klingele. Übrigens ist es ein wahres Spektakelhaus mit Geräuschen und Lärm von Wetter und Wind und Menschen. Ich wohne gerade über dem Torweg, jeder Wagen, der herein- oder hinausfährt, macht die Bilder an den Wänden erzittern. Die Haustür knallt und rüttelt, so dass das Haus schwankt wie bei einem Erdbeben. Wenn ich im Bett liege, fühle ich die Stöße in allen Gliedern; aber das soll nervenstärkend sein. Wenn es weht, und hierzulande weht es ja immer, dann baumeln die langen Fensterhaken draußen hin und her und schlagen gegen die Mauer. Die Torglocke des Nachbarn auf dem Hof klingelt bei jedem Windstoß.
Unsere Hausbewohner kommen tropfenweise nach Hause, spät am Abend, tief in der Nacht. Der Mieter gerade über mir, der am Tage Stunden in Posaunenblasen gibt, kommt am spätesten nach Hause, und er legt sich nicht schlafen, ehe er einen kleinen Mitternachtssparziergang mit schweren Schritten und eisenbeschlagenen Stiefeln gemacht hat.
Doppelte Fenster sind nicht da, aber da ist eine gerissene Fensterscheibe, die hat die Wirtin mit Papier verkleistert, der Wind bläst trotzdem durch den Riß hinein und bringt einen Laut hervor wie von einer summenden Bremse. Das ist Schlafmusik. Schlafe ich dann endlich ein, dann werde ich bald vom Hahnengeschrei geweckt. Hahn und Huhn auf dem Hühnerhof bei dem Kellermann melden, dass es bald Morgen ist. Die kleinen Nordlandspferdchen, die keinen Stall haben, sondern im Sandloch unter der Treppe angebunden sind, schlagen gegen die Tür und das Paneel, um sich Bewegung zu machen.
Der Tag dämmert. Der Pförtner, der mit seiner Familie in der Mansarde wohnt, lärmt die Treppe hinab. Die hölzernen Pantoffeln klappern, die Haustür knallt, das Haus erbebt, und wenn das überstanden ist, fängt der Mieter über mir an, sich im Turnen zu üben: er hebt in jeder Hand eine schwere Eisenkugel empor, die er nicht halten kann. Sie fällt wieder und wieder herab, während gleichzeitig die Jugend des Hauses, die zur Schule gehen soll, schreiend die Treppe hinabstürzt. Ich gehe an das Fenster und mache es auf, um frische Luft zu haben, und das ist auch erquickend, wenn ich sie nur bekommen kann und die Mansell im Hinterhaus nicht gerade Handschuhe in Fleckwasser wäscht. Das ist nämlich ihr Lebensunterhalt. Übrigens ist es ein gutes Haus, und ich wohne bei einer stillen Familie.“
Das war das Referat, das ich Tante über meine Wohnung gab. Ich erzählte lebhafter, der mündliche Vortrag hat frischere Farben als der geschriebene.
„Du bist ein Dichter!“ rief Tante. „Schreibe nur deine Rede auf, dann kannst du es dreist mit Dickens aufnehmen! Ja, mich interessierst du viel mehr! Du malst, wenn du redest! Du beschreibst dein Haus, so dass man es sieht! Es schaudert einen! – Dichte nur weiter! Lege etwas Lebendes hinein, Menschen, nette Menschen, am liebsten unglückliche!“
Das Haus schrieb ich wirklich nieder, wie es mit allen seinen Geräuschen und Mängeln dasteht, aber nur mit mir selber, ohne Handlung. Die kam später!
IV
Es war zur Winterzeit, spät am Abend, nach dem Theater, ein furchtbares Wetter, Schneesturm, so dass man kaum vorwärtskommen konnte.
Die Tante war im Theater, und ich war gekommen, um sie nach Hause zu begleiten, aber man hatte Mühe, selber zu gehen, geschweige denn andere zu führen. Die Mietkutschen waren alle besetzt. Die Tante wohnte weit draußen in der Vorstadt, meine Wohnung dahingegen lag dicht beim Theater, wäre das nicht der Fall gewesen, so hätten wir bis auf weiteres in einem Schilderhaus stehen müssen.
Wir stolperten vorwärts im tiefen Schnee, umsaust von den wirbelnden Schneeflocken. Ich hielt sie, stieß sie vorwärts. Nur zweimal fielen wir, aber wir fielen weich.
Wir erreichten meinen Torweg, wo wir unsere Kleider schüttelten; auch an der Treppe schüttelten wir uns und hatten doch Schnee genug mitgebracht, um den Fußboden auf dem Vorplatz damit anzufüllen.
Wir zogen die Überkleider und Stiefel und Strümpfe aus, befreiten uns von allem, was wir nur abwerfen konnten. Die Wirtin gab der Tante trockene Strümpfe und eine Morgenmütze, das sei notwendig, sagte die Wirtin und fügte hinzu, was auch richtig war, die Tante könne unmöglich in dieser Nacht nach Hause kommen. Sie bat sie, mit ihrer Wohnstube fürliebzunehmen. Da wollte sie ein Bett auf dem Sofa vor der immer zu meinem Zimmer abgeschlossenen Tür für sie aufmachen.
Und das geschah.
Das Feuer brannte in meinem Ofen, die Teemaschine kam auf den Tisch, es ward gemütlich in dem kleinen Zimmer, wenn auch nicht so gemütlich wie bei Tante, wo im Winter dicke Gardinen vor den Fenstern hängen und doppelte Teppiche, mir drei dicken Schichten Papier darunter, auf dem Fußboden liegen. Man sitzt da wie in einer fest zugekorkten Flasche mit warmer Luft, doch, wie gesagt, es ward auch gemütlich bei mir. Der Wind sauste draußen.
Die Tante erzählte und erzählte. Die Jugendzeit kam wieder, der Brauer kam wieder, alte Erinnerungen.
Sie erinnerte sich noch, wie ich den ersten Zahn bekam, und an die Freude der Familie darüber.
Der erste Zahn! Der Zahn der Unschuld, schimmernd wie ein kleiner Milchtropfen, der Milchzahn.
Es kam einer, es kamen mehrere, eine ganze Reihe, nebeneinander, oben und unten, die schönsten Kinderzähne, und doch nur die Vortraber, nicht die richtigen, die für das ganze Leben dauern sollen.
Auch die kamen und auch die Weisheitszähne, die Flügelmänner in der Reihe, unter Schmerzen und großen Beschwerden geboren.
Die vergehen wieder, jeder einzelne, die vergehen, ehe die Dienstzeit um ist, selbst der letzte Zahn vergeht, und das ist kein Festtag, das ist ein Wehmutstag.
Dann ist man alt, selbst wenn das Gemüt noch jung ist.
Solche Gedanken und Reden sind nicht immer vergnüglich, und doch sprachen wir von alldem, wir kehrten zurück zu den Jahren der Kindheit, redeten und redeten, die Uhr wurde zwölf, ehe Tante sich in die Stube nebenan begab.
„Gute Nacht, mein süßes Kind!“ rief sie. „Nun schlafe ich, als läge ich in meiner eigenen Kommode!“
Und sie war zur Ruhe gegangen, aber Ruhe war weder im Hause noch draußen. Der Sturm rüttelte an den Fenstern, schlug mit den langen, baumelnden eisernen Haken, klingelte mit der Türglocke im Hinterhof. Der Mieter oben war nach Hause gekommen. Er machte noch einen kleinen nächtlichen Spaziergang auf und nieder, warf dann die Stiefeln hinaus und legte sich endlich ins Bett zum Schlafen nieder; aber er schnarcht, so dass man es mit guten Ohren durch die Decke hindurch hören kann.
Ich fand nicht Ruhe, ich konnte nicht schlafen. Das Wetter ward auch nicht ruhig, es war unmanierlich lebhaft. Der Wind sauste und sang auf seine Weise, meine Zähne fingen auch an, lebhaft zu werden, sie sausten und sangen auf ihre Weise. Sie schlugen an zu großen Zahnschmerzen.
Vom Fenster her zog es. Der Mond schien auf den Fußboden hinein. Das Licht kam und ging im Sturm. Es war eine Unruhe in Schatten und Licht, aber schließlich sah der Schatten am Fußboden aus wie etwas. Ich starrte nach diesem beweglichen etwas hin und spürte einen eiskalten Wind.
Auf dem Fußboden saß eine Gestalt, dünn und lang, wie wenn ein Kind mit einem Griffel etwas auf die Tafel zeichnet, was einem Menschen gleichen soll, ein einziger dünner Strich ist der Körper, ein Strich und noch einer sind die Arme. Die Beine sind auch nur ein Strich, der Kopf ist ein Vieleck.
Bald wurde die Gestalt deutlicher, sie bekam eine Art Gewand, sehr dünn, sehr fein, aber es deutete an, dass sie dem weiblichen Geschlecht angehörte. Ich vernahm ein Summen. War sie es, oder war es der Wind, der wie eine Bremse im Fensterriss surrte.
Nein, sie war es selber, Frau Zahnweh! Ihre Entsetzlichkeit Satania infernalis, Gott bewahre uns vor ihrem Besuch.
„Hier ist gut sein!“ summte sie. „Hier ist ein gutes Quartier, Sumpfgrund, Moorgrund. Hier haben die Mücken mit Gift in den Stacheln gesummt, jetzt habe ich den Stachel. Der muss an Menschenzähnen gewetzt werden. Sie schimmern so weiß bei dem, der hier im Bett liegt. Sie haben Süß und Sauer, Heiß und Kalt, Nußkern und Pflaumenstein getrotzt! Aber ich will sie schon rütteln und schütteln, die Wurzeln mit Zugwind düngen, sie fußkalt machen!“
Es war eine schreckliche Rede, ein fürchterlicher Gast.
„Du bist also Dichter!“ sagte sie. „Ja, ich will dich in allen Versmaßen der Pein hinaufdichten! Ich will dir Eisen und Stahl in den Körper geben, die Fäden in alle deine Nervenfasern hineinlegen!“
Es war, als führe sie einen glühenden Pfriem in den Kinnbacken hinein. Ich wand und krümmte mich.
„Ein famoses Zahnwerk!“ sagte sie! Eine Orgel, auf der man spielen kann. Maulharfen-Konzert, großartig, mit Pauken und Trompeten, Flöte piccolo, Posaune im Weisheitszahn. Großer Poet, große Musik!“
Ja, sie spielte auf, und entsetzlich sah sie aus, selbst wenn man nichts weiter von ihr sah als die Hand, diese schattengraue, eiskalte Hand mit den langen, pfriemdünnen Fingern; jeder von ihnen war ein Foltergerät: der Daumen und der Zeigefinger waren Kneifzange und Schrauben, der Langemann endete in einem spitzen Pfriem, der Ringfinger war ein Handbohrer und der kleine Finger eine Spritze mit Mückengift.
„Ich will dich Versemachen lehren!“ sagte sie. „Ein großer Dichter soll große Zahnschmerzen haben, kleine Dichter kleine Zahnschmerzen!“
„Ach, lass mich klein sein!“ bat ich. „Lassmich gar nicht sein! Und ich bin nicht Poet, ich habe nur Dichteranfälle sowie Anfälle von Zahnweh. Fahre hin! Fahre hin!“
„Erkennst du denn, dass ich mächtiger bin als die Poesie, die Philosophie, die Mathematik und die ganze Musik!“ sagte sie. „Mächtiger als alle diese abgemalten und in Marmor gehauenen Empfindungen. Ich bin die älteste von ihnen allen. Ich bin dicht am Garten des Paradieses geboren, draußen, wo der Wind sauste und die nassen Pilze wuchsen. Ich veranlasste Eva, sich in dem kalten Wetter zu bekleiden, und Adam auch. Du kannst mir glauben, da war Kraft in dem ersten Zahnweh!“
„Ich glaube alles!“ sagte ich. „Fahre hin! Fahre hin!“
„Ja, willst du deine Dichterwirksamkeit aufgeben, nimmermehr Verse auf Papier, Tafel oder irgendeine Art von Schreibmaterial niederschreiben, dann will ich dich verlassen, aber ich komme wieder, sobald du dichtest!“
„Ich schwöre!“ sagte ich. „Lassmich dich nur niemals mehr sehen oder spüren!“
„Sehen sollst du mich, aber in einer volleren, lieberen Gestalt wie jetzt! Du sollst mich als Tante Mille sehen. Und ich will sagen. Dichte, mein süßer Junge! Du bist ein großer Dichter, der größte vielleicht, den wir haben, aber sobald du es glaubst und anfängst zu dichten, setze ich deine Verse in Musik, spiele sie auf deiner Mundharfe, du süßes Kind! – Denke an mich, wenn du Tante Mille siehst!“
Und dann verschwand sie.
Zum Abschied bekam ich noch einen glühenden Pfriemstich in den Kinnbacken hinten, aber das beruhigte sich bald, es war, als flösse ich auf dem weichen Wasser, als sähe ich die weißen Wasserrosen mit den grünen breiten Blättern sich neigen, sich unter mich senken, verwelken, sich auflösen, und ich sank mit ihnen wurde in Frieden und Ruhe aufgelöst. –
„Sterben, hinschmelzen wie der Schnee!“ sang es und klang es im Wasser.
„In der Wolke verdunsten, hinfahren wie die Wolke!-“
Zu mir hinab durch das Wasser schimmerten große, strahlende Namen, Inschriften auf wehenden Siegesfahnen, das Patent der Unsterblichkeit – auf dem Flügel der Eintagsfliege geschrieben.
Der Schlaf war tief, der Schlaf ohne Traum. Ich hörte weder den sausenden Wind, die knallende Hautür, die klingelnde Torglocke des Nachbarn noch die schweren Turnübungen des Mieters über mir.
Glückseligkeit!
Dann kam ein Windstoß, so dass die verschlossene Tür zu Tante aufsprang. Auch Tante sprang auf, kam in ihre Schuhe, kam in die Kleider, kam zu mir herein.
„Ich habe wie ein Engel Gottes geschlafen“, sagte sie, sie habe nicht gewagt, mich zu wecken.
Ich erwachte auch, schloss die Augen auf, hatte ganz vergessen, dass Tante hier im Hause war, aber bald fiel es mir ein, meine Zahnweh-Erscheinung fiel mir ein. Traum und Wirklichkeit vermischten sich miteinander.
„Du hast gestern Abend, nachdem wir einander Gute Nacht gesagt hatten, wohl nicht mehr geschrieben?“ frage sie. Ach hättest du es doch getan! Du bist mein Dichter, und das bleibst du!“
Es war mir, als lächle sie hinterlistig. Ich wusste nicht, ob es die gute Tante Mille war, die mich liebte, oder die Entsetzliche, der ich des Nachts das Versprechen gegeben hatte.
„Hast du gedichtet, süßes Kind?“
„Nein, nein!“ rief ich. „Du bist doch Tante Mille?“
„Wer sollte ich sonst wohl sein!“ sagte sie. Und es war wirklich Tante Mille. Sie küsste mich, kam in eine Droschke und fuhr nach Hause. Ich schrieb nieder, was hier geschrieben steht. Es ist nicht in Versen und soll nie gedruckt werden. – – – –
Ja, hier hörte das Manuskript auf. Mein junger Freund, der Krämergehilfe, konnte das Fehlende nicht auftreiben, es war in die Welt hinausgegangen, als Papier um gesalzene Heringe, grüne Seife und Butter. Es hatte seine Bestimmung erfüllt.
Der Brauer ist tot, die Tante ist tot, der Student ist tot, er, dessen Gedankenfunken in die Bütte wanderten: das ist das Ende der Geschichte – der Geschichte von Tante Zahnweh.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
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Übersetzungen | DE, EN, DA, ES, IT |
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 75.7 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 34.2 |
Flesch-Reading-Ease Index | 61.6 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 7.9 |
Gunning Fog Index | 7.7 |
Coleman–Liau Index | 12 |
SMOG Index | 10.3 |
Automated Readability Index | 8.3 |
Zeichen-Anzahl | 22.029 |
Anzahl der Buchstaben | 17.389 |
Anzahl der Sätze | 272 |
Wortanzahl | 3.521 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 12,94 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 747 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 21.2% |
Silben gesamt | 5.498 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,56 |
Wörter mit drei Silben | 410 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 11.6% |