Vorlesezeit für Kinder: 12 min
In alten Tagen, als Großvater ein ganz kleiner Knabe war und mit roten Höschen umherlief, auch mit einem roten Rocke, mit einen Gurt um den Leib und einer Feder aus der Casquette – denn so gingen die kleinen Knaben in seiner Kindheit gekleidet, wenn sie recht geputzt waren -, da war so vieles ganz anders wie jetzt. Da war gar oft viel Staat auf der Straße, Staat, den wir nicht mehr sehen, weil er abgeschafft ist – er war zu altväterisch; aber unterhaltend ist es doch, Großvater davon erzählen zu hören.
Es muss damals wirklich ein Staat gewesen sein, als der Schuhmacher beim Wechsel des Gerichtshauses das Schild hinüberbrachte. Die seidene Fahne wehte. Auf das Schild selber waren ein großer Stiefel und ein Adler mit zwei Köpfen gemalt. Die jüngsten Buschen trugen das „Willkommen“ und die Lade der Handwerker-Innung und hatten rote und weiße Bänder an ihren Hemdärmeln herabflattern. Die älteren trugen gezogene Degen mit einer Zitrone auf der Spitze.
Da war tolle Musik, und das prächtigste von allen Instrumenten war „der Vogel“ wie Großvater die große Stange nannte mit dem Halbmonde daran und allen möglichen Tingeltangel. Eine richtig türkische Musik. Die Stange wurde hoch in die Luft gehoben und geschwungen, dass es klingelte und klang und es einem die Augen blendete, wenn die Sonne auf das Gold, Silber und Messing schien. Vor dem Zuge her lief der Harlekin in Kleidern von allen möglichen bunten Lappen zusammengenäht, mit schwarzem Gesicht und Glöckchen um den Kopf wie ein Schlittenpferd. Der schlug mit seiner Pritsche auf die Leute ein, dass es klatschte, ohne ihnen Schaden zu tun, und die Leute drückten sich zusammen, um zurückzuweichen und gleich wieder hervorzukommen.
Kleine Knaben und Mädchen fielen über ihre eigenen Füße in den Rinnstein. Alte Frauen pufften mit den Ellenbogen, machten saure Miene und schnupften. Der eine lachte, ein anderer schwatzte. Das Volk war auf den Treppen und in den Fenstern, ja auf den Dächern. Die Sonne schien. Ein wenig Regen bekamen sie auch, aber das war gut für den Landmann, und wenn sie so recht patschnass wurden, so war das ein wahrer Segen für das Land. Wie Großvater erzählen konnte! Er hatte als kleiner Knabe den Staat in der größten Pracht gesehen. Der älteste Gerichtsdiener hielt die Rede vom Gerüst, wo das Schild aufgehängt wurde. Die Rede war in Versen, als ob sie gedichtet sei, und das war sie auch. Es waren ihrer drei dazu gewesen. Sie hatten erst eine tüchtige Terrine Punsch getrunken, um es recht gut zu machen.
Und das Volk brachte für die Rede ein Hurra aus, aber rief noch öfter: „Hurra für den Harlekin“, als er auf dem Gerüst zum Vorschein kam und den Leuten einen schiefen Mund zog. Der Narr machte einen ausgezeichneten Narren und trank Met aus Schnapsgläsern, die er kann unter das Volk schleuderte, wo sie von den Leuten aufgefangen wurden. Großvater war im Besitz eines solchen, das ihm ein Maurergeselle, der es erwischt, verehrt hatte. Das war wirklich belustigend. Das Schild an dem neuen Gerichtshause war mit Blumen behangen.
„Solch einen Staat vergisst man niemals, wie alt man auch werden mag“, sagte Großvater, und er vergaß es auch nicht, obgleich er noch viel andere Pracht und Herrlichkeiten gesehen hatte und auch davon erzählte. Das Ergötzlichste blieb aber doch immer, ihn von dem Schild erzählen zu hören, das in der großen Stadt von dem alten zu dem neuen Gerichtshause gebracht wurde. Der Großvater reiste als kleiner Knabe mit seinen Eltern zu der Feierlichkeit. Er hatte die größte Stadt des Landes vorher nie gesehen. Da waren so viele Menschen auf der Straße, dass er glaubte, man trüge schon das Schild fort. Es gab da viele Schilder, man hätte hundert Stuben mit Bildern anfüllen können, hätte man sie inwendig und auswendig aufgehängt. Da waren bei dem Schneider alle Arten von Menschenkleidern abgemalt, und er konnte die Leute vom Groben bis zum Feinen benähen.
Da waren die Schilder von den Tabakswicklern, mit den anmutigsten kleinen Knaben welche Zigarren rauchten, ebenso wie in der Wirklichkeit. Da waren Schilder mit Butter und Heringen, Priesterkragen und Särgen und außerdem Inschriften und Anschlagzettel. Man konnte recht gut einen ganzen Tag in den Straßen auf und nieder gehen und sich an den Bildern müde sehen. Dann wusste man aber auch das Ganze und welche Menschen in den Häusern wohnten, denn sie hatten ja ihr Schild selber herausgehängt, und das ist so gut, sagte der Großvater, und auch so lehrreich, gleich in einer großen Stadt zu wissen, wer darinnen wohnt.
So trug sich das mit den Schildern zu, als der Großvater in die Stadt kam. Er hat es selbst erzählt, und er hatte keinen Schelm im Nacken, wie die Mutter glaubte, und hätte es mir gesagt, wenn er mir etwas weismachen wollte. Er sah ganz zuverlässig aus. Die erste Nacht, als er zur Stadt gekommen, war hier das fürchterlichste Wetter gewesen, wovon man noch jemals in der Zeitung gelesen: ein Wetter, wie sich niemals ein Mensch erinnerte erlebt zu haben. Die ganze Luft war mit Ziegelsteinen angefüllt; altes Holzwerk stürzte zusammen; ja ein Schubkarren lief ganz von selber die Straße hinauf, nur um sich zu retten.
Es brüllte in der Luft, es heulte und kreischte, es war ein entsetzlicher Sturm. Das Wasser im Kanal lief über das Bollwerk hinaus, denn es wusste nicht, wo es bleiben sollte. Der Sturm fuhr über die Stadt hin und nahm die Schornsteine mit; mehr als eine alte, stolze Kirchturmspitze musste sich beugen und hat das seitdem nie verwunden. Da stand ein Schilderhaus, draußen, wo der alte, anständige Brand-Major wohnte, der immer mit der letzten Spritze kam. Der Sturm wollte ihm das kleine Schilderhaus nicht gönnen, es wurde aus den Fugen gerissen und rollte die Straße hinab. Und wunderbar genug erhob es sich wieder und blieb vor dem Hause des Zimmergesellen stehen, der bei dem letzten Brande drei Menschenleben gerettet hatte; aber das Schilderhaus dachte sich nichts dabei.
Das Schild vom Barbier, der große Messingteller, wurde heruntergerissen und gerade in die Fenstervertiefung des Justizrates geschleudert, und das sah fast wie Bosheit aus, so sagte die ganze Nachbarschaft, weil diese und die allerintimsten Freundinnen der Frau Justizrätin sie Rasiermesser nannten. Sie war so klug, dass sie von den Menschen mehr als die Menschen über sich selber wusste.
Da flog ein Schild mit einem abgerissenen, trocknen Klippfische gerade über die Tür eines Hauses, wo ein Mann wohnte, der eine Zeitung schrieb. Das war ein flauer Scherz von dem Sturmwinde, der nicht daran dachte, dass ein Zeitungsschreiber gar nicht geschaffen ist, um mit sich scherzen zu lassen, denn er ist ein König in seiner eigenen Zeitung und auch in seiner eigenen Meinung. Der Wetterhahn flog auf das gegenüberliegende Dach und stand da wie die schwärzeste Bosheit – sagten die Nachbarn.
Die Tonne des Fassbinders wurde unter „Damenputz“ aufgehängt. Des Gastwirts Speisezettel in einem schweren Rahmen, der an der Türe hing, wurde vom Sturme über den Eingang des Theaters gestellt, wo die Leute niemals hinkommen. Es war ein lächerliches Plakat: „Meerrettichsuppe und gefüllter Kohlkopf“, aber jetzt kamen die Leute. Des Kürschners Fuchspelz, der sein ehrbares Schild ist, wurde an die Klingelschnur des jungen Mannes geschleudert, der immer in die Frühpredigt ging, wie ein heruntergeschlagener Regenschirm aussah, nach Wahrheit strebte und, wie seine Tante sagte, ein „Exempel“ war.
Die Inschrift „Höhere Bildungsanstalt“ wurde über den Billardklub hingeschleudert, und die Anstalt selber bekam das Schild „Hier zieht man Kinder mit der Flasche auf“. Das war gar nicht witzig, nur unartig, aber das hatte der Sturm getan, und den kann man nicht regieren. Es war eine fürchterliche Nacht, und am Morgen – denkt nur – waren fast alle Schilder der Stadt verwechselt. An einigen Orten war es mit so großer Bosheit geschehen, dass Großvater gar nicht davon reden wollte, aber doch, wie ich ganz gut gesehen, inwendig lachte, und da ist es doch wohl möglich, dass er etwas hinter den Ohren hatte.
Die armen Leute in der Stadt, und ganz besonders die Fremden, irrten sich nun in den Menschen, und es konnte auch nicht gut anders sein, wenn sie sich nach dem Schilde richteten. So wollten einige zu einer ernsten Versammlung älterer Männer, wo die wichtigsten Dinge verhandelt werden sollten, und kamen nun in eine kreischende Knabenschule, wo alle über Tisch und Bänke sprangen.
Es waren auch Leute da, die die Kirche mit dem Theater verwechselten, und das ist doch entsetzlich! Einen solchen Sturm hat es in heutiger Zeit nicht mehr gegeben, bloß Großvater hat ihn erlebt, und da war er noch sehr klein. Ein solcher Sturm kommt vielleicht auch zu unseren Lebzeiten gar nicht vor, aber zu Lebzeiten unserer Enkel – dann wollen wir aber hoffen und beten, dass sie in ihren vier Wänden bleiben, wenn der Sturm mit den Schildern umzieht.
Hintergründe zum Märchen „Der Sturm zieht mit den Schildern um“
Hans Christian Andersen war ein dänischer Schriftsteller, der im 19. Jahrhundert lebte und arbeitete. Er ist am besten bekannt für seine Märchen, die auf der ganzen Welt geliebt und gelesen werden. Andersens Geschichten wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und haben Generationen von Lesern inspiriert. Einige seiner bekanntesten Werke sind „Die kleine Meerjungfrau“, „Das hässliche Entlein“ und „Die Schneekönigin“.
Andersens Geschichten sind oft fantastisch und magisch, aber sie enthalten auch tiefe moralische Botschaften und soziale Kommentare. In „Der Sturm zieht mit den Schildern um“ verwendet Andersen eine humorvolle und ironische Erzählweise, um die Veränderungen in der Gesellschaft, die Unvorhersehbarkeit des Lebens und die Bedeutung von Anpassungsfähigkeit und Flexibilität zu erkunden.
Die Geschichte spielt in einer Zeit, die als altmodisch und nostalgisch dargestellt wird, als Großvater ein kleiner Junge war. Die Schilder, die in der Geschichte eine zentrale Rolle spielen, repräsentieren die Identität und den Status der Menschen in der Gemeinschaft. Das plötzliche Vertauschen der Schilder durch den Sturm zeigt die Schwierigkeiten, die entstehen, wenn Veränderungen eintreten und die Menschen gezwungen sind, ihre gewohnten Wege und Identitäten neu zu bewerten.
Andersens Märchen wurden oft von persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen aus seiner eigenen Lebenszeit inspiriert. In dieser Geschichte könnte der Sturm, der die Schilder vertauscht, als symbolische Darstellung der gesellschaftlichen Umwälzungen gesehen werden, die während Andersens Leben stattfanden. Die Industrialisierung, Urbanisierung und soziale Veränderungen führten zu einer Neuordnung der Gesellschaft und zwangen die Menschen, sich an neue Lebensumstände anzupassen.
Die humorvolle Darstellung der vertauschten Schilder und die absurden Situationen, die daraus entstehen, zeigen auch Andersens Fähigkeit, seine Geschichten unterhaltsam und zugänglich zu gestalten, während er gleichzeitig wichtige Botschaften und Themen anspricht.
Interpretationen zum Märchen „Der Sturm zieht mit den Schildern um“
„Der Sturm zieht mit den Schildern um“ von Hans Christian Andersen bietet verschiedene Interpretationen und beinhaltet einige mögliche Botschaften:
Widerstand gegen Veränderungen: Die Geschichte erinnert an eine Zeit, in der die Dinge anders waren, und zeigt, wie Veränderungen in der Gesellschaft oft auf Widerstand stoßen. Die Menschen sind gewohnt, sich nach den Schildern zu richten und fühlen sich verwirrt, wenn diese vertauscht werden. Dies könnte als Metapher für die Schwierigkeiten verstanden werden, die Veränderungen mit sich bringen, insbesondere wenn sie plötzlich und unerwartet eintreten.
Macht der Natur: Die Geschichte zeigt auch die unglaubliche Kraft der Natur und wie sie das Leben der Menschen beeinflussen kann. Der Sturm, der die Schilder vertauscht, verdeutlicht, dass die Naturgewalten unberechenbar sind und das menschliche Leben auf unerwartete Weise beeinflussen können.
Ironie und Humor: Die Erzählung ist auch humorvoll und ironisch, da die vertauschten Schilder die Menschen in absurde Situationen führen. Die Geschichte kann als unterhaltsame Anekdote verstanden werden, die zum Schmunzeln anregt und zeigt, wie wichtig es ist, sich nicht nur auf Äußerlichkeiten zu verlassen, sondern auch die tatsächliche Substanz und Bedeutung von Dingen zu erkennen.
Erinnerung und Nostalgie: Der Großvater erzählt die Geschichte aus seiner Kindheit und betont, wie prägend und unvergesslich diese Erlebnisse für ihn waren. Die Geschichte vermittelt ein Gefühl von Nostalgie und zeigt, wie Erinnerungen und Traditionen von Generation zu Generation weitergegeben werden.
Die Unvorhersehbarkeit des Lebens: Schließlich kann die Geschichte auch als Darstellung der Unvorhersehbarkeit des Lebens interpretiert werden. Der Sturm symbolisiert die unvorhersehbaren Ereignisse, die das Leben auf den Kopf stellen und die Menschen dazu zwingen, sich anzupassen und neu zu orientieren. Die Geschichte lehrt, dass Flexibilität und Anpassungsfähigkeit wichtige Eigenschaften sind, um mit den Herausforderungen des Lebens fertig zu werden.
Zusammenfassung der Handlung
In dem Märchen „Der Sturm zieht mit den Schildern um“ von Hans Christian Andersen erzählt der Großvater von einer Zeit, in der vieles anders war und die Straßen von prächtigen Feierlichkeiten geprägt waren. Er erinnert sich an eine besondere Feier, bei der das Schild eines Gerichtshauses getragen wurde und die Menschen sich an diesem Tag amüsierten. An einem anderen Tag, als der Großvater in die Stadt kam, erlebte er den schlimmsten Sturm, den er je gesehen hatte.
Der Sturm war so heftig, dass viele Schilder und Gegenstände von den Häusern gerissen und an anderen Orten wieder abgesetzt wurden. Am nächsten Morgen waren fast alle Schilder der Stadt vertauscht, was zu großer Verwirrung führte. Die Menschen irrten sich in den Gebäuden und verwechselten beispielsweise Kirche und Theater miteinander. Der Großvater erzählt, dass es seitdem keinen solchen Sturm mehr gegeben hat. Er hofft, dass seine Enkelkinder, sollten sie jemals einen ähnlichen Sturm erleben, sicher in ihren vier Wänden bleiben, wenn der Sturm mit den Schildern umzieht.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
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Übersetzungen | DE, EN, ES |
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 67.2 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 42.6 |
Flesch-Reading-Ease Index | 52.8 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 11.1 |
Gunning Fog Index | 11.3 |
Coleman–Liau Index | 12 |
SMOG Index | 12 |
Automated Readability Index | 12 |
Zeichen-Anzahl | 8.913 |
Anzahl der Buchstaben | 7.189 |
Anzahl der Sätze | 69 |
Wortanzahl | 1.440 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 20,87 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 313 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 21.7% |
Silben gesamt | 2.262 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,57 |
Wörter mit drei Silben | 179 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 12.4% |