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Turmwächter Ole
Grimm Märchen

Turmwächter Ole - Märchen von Hans Christian Andersen

Vorlesezeit für Kinder: 28 min

In der Welt geht es immer hinauf und hinunter und hinunter und hinauf! – „Jetzt kann ich nicht höher hinauf!“ sagte der Turmwächter Ole, „Hinauf und hinunter müssen die meisten Leute erleben; im Grunde genommen werden wir alle zuletzt Turmwächter, schauen das Leben und die Dinge von oben an“. So sprach Ole, mein Freund, der alte Wächter, ein kurioser, gesprächiger Kauz, der alles zu sagen schien und der doch gar vieles in seinem ersten Sinn tief im Herzen verbarg. Ja, er war guter Leute Kind, es gab welche, die da sagten, er sei der Sohn eines Geheimrates oder hätte es sein können; studiert hatte er, war Hilfslehrer, Hilfsküster gewesen, wozu nützte ihm das Alles! Damals wohnte er bei dem Küster, sollte dort alles im Hause haben, freien Unterhalt, wie man sagt, und war noch, wie es heißt, ein junger, feiner Herr. Er wollte seine Stiefel mit Glanzwichse geputzt haben, aber der Küster wollte nur Schmiere hergeben und darüber wurden sie uneins. Der eine sprach von Geiz, der andere von Eitelkeit, die Wichse ward der schwarze Grund ihrer Feindschaft, und endlich trennten sie sich.

Was er vom Küster forderte, das forderte er von der Welt überhaupt: Glanzwichse, und er bekam stets nur Schmiere. Deshalb zog er sich endlich von allen Menschen zurück und wurde ein Eremit; aber Eremitentum, Amt und Brot zugleich inmitten einer großen Stadt gibt es nur oben im Kirchturm. Dort stieg er denn auch hinauf und schmauchte seine Pfeife während seines einsamen Turmganges. Er blickte hinab und hinauf, dachte nach dabei und erzählte in seiner Art und Weise von dem, was er sah und was er nicht sah, was er in Büchern und in sich selber las. Ich lieh ihm oft Bücher, gute Bücher, und an dem Umgang mit ihnen erkennt man den Mann. Er liebe weder die englischen Gouvernanten-Romane noch die französischen, die ein Gebräu aus Zugwind und Rosinenstengel seien, sagte er, nein, er wolle Lebensbeschreibungen, Bücher von den Wundern der Erde haben. Ich besuchte ihn mindestens einmal im Jahre, gewöhnlich gleich nach Neujahr, er sprach dann immer von diesem und jenem, das ihm beim Jahreswechsel in den Sinn gekommen war.

Ich will von drei Besuchen erzählen und werde seine eigenen Worte wiedergeben, wenn ich es vermag.

Erster Besuch

Unter den Büchern, die ich letzthin Ole geliehen hatte, war eins, welches ihn namentlich erfreute und erfüllte, nämlich ein Buch von den Gesteinen.

„Ja, das sind wahrhaftige Jubelgreise, diese Gesteine!“ sagte er, „und an ihnen geht man gedankenlos vorüber! Ich selber habe es getan auf dem Feld und am Strand, wo sie in Mengen liegen. Und über das Straßenpflaster, die Pflastersteine, diese Brocken der allerältesten Überreste des Altertums, schreitet man auch so ohne weiteres dahin! Auch dies habe ich getan. Jetzt aber zolle ich jedem Pflasterstein meine Hochachtung. Schönsten Dank für das Buch, es hat mich mit Gedanken erfüllt und alte Ansichten und Gewohnheiten zum Weichen gebracht, hat mich erpicht gemacht, mehr von der Art zu lesen. Der Roman der Erde ist doch der ehrwürdigste aller Romane! Schade nur, dass man die ersten Teile nicht lesen kann, weil sie in einer Sprache abgefasst sind, die wir nicht gelernt haben. Man muss in den Erdschichten, in den Kieselsteinen, in allen Erdperioden lesen, und die handelnden Personen, Herr Adam und Frau Eva, treten erst in dem sechsten Teil auf. Das ist dann vielen Lesern zu spät, sie möchten sie gleich im ersten Teil haben – mir ist das auch so recht.

Ja, das ist ein Roman, ein höchst abenteuerlicher Roman, und wir alle kommen in ihm vor. Wir kribbeln und krabbeln umher und bleiben doch an demselben Ort, aber die Kugel dreht sich, ohne dass das Weltmeer über uns ausgegossen wird. Die Scholle, auf der wir uns bewegen, hält schon, wie fallen nicht durch. Und dann ist es eine Geschichte, die sich durch Millionen von Jahren hindurchzieht und die ewig weitergeht. Besten Dank für das Buch von den Gesteinen, das sind Kerle! Die könnten was erzählen, wenn sie es überhaupt könnten! Es ist so recht ein Vergnügen, einmal dann und wann ein Nichts zu werden, und vollends, wenn man so hoch sitzt wie ich, und dann zu denken, dass wir alle, selbst mit Glanzwichse, weiter nichts sind als Minutenameisen auf dem Erdenhaufen, wenn wir auch Ameisen mit Ordensbändern sind, Ameisen, die gehen und sitzen können! Es wird einem ganz grünschnabelig zumute neben diesen millionenjahralten, ehrwürdigen Gesteinen. Ich las am Neujahrsabend in dem Buch und hatte mich dermaßen darin vertieft, dass ich mein gewöhnliches Neujahrsvergrünen vergaß, nämlich „Die wilde Jagd nach Amack“, die kennen Sie sicher nicht!

Der Ritt der Hexen auf dem Besenstiel ist bekannt genug, der geht in der ersten Mainacht zum Brocken, aber wir haben auch eine wilde Jagd, die ist einheimisch und neuzeitig, die geht nach Amack in der Neujahrsnacht.

Alle schlechten Poeten, Poetinnen, Musikanten, Zeitungsschreiber und künstlerischen Notlabilitäten, die, welche nichts taugen, reiten in der Neujahrsnacht durch die Luft nach Amack hinaus. Sie sitzen rittlings auf ihren Pferden oder Federkielen, Stahlfedern tragen sie nicht, die sind zu steif. Ich sehe das, wie gesagt, in jeder Neujahrsnacht, die Mehrzahl von den Reitern könnte ich beim Namen nennen, aber ich möchte doch nicht ihre Feindschaft auf mich laden, sie lieben es nicht, dass die Leute von ihrer Amackfahrt auf Federkielen etwas erfahren. Ich habe eine Art Nichte, die Fischweib ist und, wie sie sagt, drei geachteten Zeitungsblättern die Schmäh- und Schimpfwörter liefert. Sie ist selber dort auf Amack als geladener Gast gewesen, sie wurde hinausgetragen, sie selber hält keinen Federkiel und kann nicht reiten.

Die hat es erzählt. Die Hälfte von dem, was sie sagt, ist Lüge, aber die andere Hälfte unterrichtet uns zur Genüge. Als sie draußen war, begannen sie die Festlichkeiten mit Gesang, jeder der Gaste hatte sein Lied geschrieben, und jeder sang auch sein eigen Lied, denn das Lied war das beste, alles war eins, alles dieselbe Melodie. Darauf marschierten in kleinen Kameradschaften diejenigen auf, die nur mit dem Maulwerk tätig sind, als da sind die Glockenspiele, die wechselweise singen. Darauf kamen die kleinen Trommelschläger, die in den Familienkreisen austrommeln. Bekanntschaft wurde mit denjenigen gemacht, die da schreiben, ohne dass sie ihren Namen dazu hergeben, das heißt hier so viel wie diejenigen, die Schmiere anstatt der Glanzwichse gebrauchen. Da war der Büttel und sein Bursche, und der Bursche war der Schlimmste, denn sonst beachtet man ihn nicht. Da war auch der gute Straßenkehrer mit seinem Karren, der den Kehrichtkübel umstülpt und ihn „gut“, „Sehr gut“, ausgezeichnet“ nennt. Und in all dem Vergnügen, das schon die Zusammenkunft gewähren mochte, schloss aus der großen Aasgrube auf Amack ein Stengel, ein Baum, eine ungeheure Blüte, ein großer Erdpilz, ein ganzes Dach hervor, das war die Schlaraffenschlange der geehrten Versammlung, an der alles hing, was sie während des alten Jahres der Welt geschenkt hatte; aus dem Baum sprühten Funken wie Feuerflammen, das waren all die von anderen entliehenen Gedanken und Ideen, die sie benutzt hatten und die nun sich lösten und dahinfuhren, ein ganzes Feuerwerk. Man spielte „der Prügel brennt“, und die kleinen Poeten spielten „das Herz brennt“. Die Witzigen witzelten, und die Witze rollten donnernd dahin, als schlüge man leere Töpfe an den Türen entzwei.

Es war höchst vergnüglich, sagte meine Nichte; eigentlich sagte sie noch vieles, was aber sehr maliziös, aber auch sehr amüsant war – ich sage es nicht wieder, man soll ein guter Mensch und kein Räsoneur sein. Sie werden indes wohl einsehen, dass wenn man wie ich einmal Bescheid über das Fest draußen auf Amack weiß, es natürlich ist, dass man jede Neujahrsnacht aufpasst, damit man die wilde Jagd dahinfahren sieht; vermisse ich in einem Jahr einzelne, die früher dabei waren, so sind wiederum neue hinzugekommen, aber dieses Jahr versäumte ich es, mir die Gästen anzusehen, ich rollte davon auf den Gesteinen, rollte dahin durch Millionen von Jahren und sah die Steine sich losreißen hoch oben im Norden, sah sie auf den Eisschollen umhertreiben, lange bevor die Arche Noah gezimmert ward, sah sie auf dem Meeresgrund hinabsinken und wieder auftauchen mit einer Sandbank, die aus den Gewässern emporragte und sagte: „Dies soll Seeland sein!“ Ich sah sie die Heimat von Vögeln werden, die wir nicht kennen, bis endlich die Axt ihre Runenzeichen in ein paar von den Steinen hieb, die alsdann in die Zeitrechnung hineingerieten, aber ich war dabei aus aller Zeitrechnung herausgeraten und ganz und gar zu null und nichts geworden. Da fielen drei, vier herrliche Sternschnuppen, die klärten wieder auf, gaben den Gedanken einen anderen Schwung: Sie wissen doch, was eine Sternschnuppe ist? Die Gelehrten wissen das sonst nicht! Ich habe nun so meine eigenen Gedanken vom Sternschuß, wie der gemeine Mann die Sternschnuppen in vielen Gegenden nennt, und ich gehe von folgendem aus: wie oft wird nicht im geheimen Dank und Segen jedwedem gespendet, der etwas Schönes und Gutes ausgerichtet hat, öfter ist der Dank lautlos, aber er geht nicht verloren! Ich denke mir, er wird vom Sonnenschein aufgefangen, und der Sonnenstrahl bringt den stillempfundenen, verborgenen Dank über das Haupt des Wohltäters; ist es ein ganzes Volk, welches durch die Zeiten seinen Dank sendet, ja, dann erscheint der Dank als ein Blumenstrauß, fällt als eine Sternschnuppe auf das Grab des Wohltäters herab. Mir ist es in der Tat ein großes Vergnügen, wenn ich eine Sternschnuppe, namentlich in der Neujahrsnacht, erblicke und dann herausfinden, wem wohl der Dankesstrauß gelten mag. Letzthin fiel eine leuchtende Sternschnuppe im Südwest: ein Danksagen an viele, viele! Wem mochte die Sternschnuppe wohl gelten? Die fiel gewiss, dachte ich, auf den Abhang an dem Flensburger Meerbusen, wo der Danebrog über die Gräber Schleppergrells, Lässoes und deren Kameraden weht. Eine fiel auch mitten ins Land hinein, fiel auf Sorö herab, ein Strauß auf Holbergs Ruhestätte, eine Danksagung des Jahres von gar vielen, Dank für die herrlichen Komödien!

Es ist ein großer, ein freudiger Gedanke, zu wissen, dass eine Sternschnuppe auf unser Grab herabfällt. Auf das meinige fällt nun freilich keine, kein Sonnenstrahl bringt mir eine Danksagung, denn hier ist nichts des Dankes wert! Ich bringe es nicht zu Glanzwichse“, sagte Ole, „mein Los auf Erden ist nun einmal Schmiere.“

Zweiter Besuch

Es war am Neujahrstag, ich stieg auf den Turm. Ole sprach von den Trinksprüchen, die beim Übergang vom alten ins neue Jahr, von der einen Traufe in die Andere, wie er sagte, ausgebracht werden. Und so gab er mir seine Geschichte von den Gläsern zum besten, und die hatte einen tiefen Sinn.

„Wenn in der Neujahrsnacht die Uhr zwölf schlägt, erheben sich die Leute an der Tafel, das volle Glas in der Hand, und leeren es und bringen dem neuen Jahr ein Hoch. Man beginnt das Jahr mit dem Glas in der Hand, das ist ein guter Anfang für Säufer! Man beginnt das Jahr damit, dass man sich zu Bett legt, das ist ein guter Anfang für Faule! Der Schlaf wird im Verlaufe des Jahres schon eine große Rolle spielen, das Glas desgleichen. Wissen Sie wohl, was in den Gläsern wohnt?“ fragte Ole. „Ja, es wohnen im Glase Gesundheit, Freude und der maßloseste Sinnenrausch, es wohnen Verdruss und das herbste Unglück im Glase. Zählen wir einmal die Gläser, ich spreche natürlich von der unterschiedlichen Bedeutung der einzelnen für die verschiedenen Menschen.

Siehst du, das erste Glas, das ist das Glas der Gesundheit, in dem wächst das Kraut der Gesundheit; stelle es auf den Balken an der Decke, und am Ende des Jahres kannst du dann in der Laubhütte der Gesundheit sitzen.

Nimmst du das zweite Glas – ja, aus dem schwingt sich ein kleiner Vogel empor, der zwitschert unschuldig fröhlich, so dass der Mensch seinem Gezwitscher lauscht und vielleicht mit einstimmt: schön ist das Leben! Keine Kopfhängerei! Frischen Mut, freudig vorwärts!

Aus dem dritten Glas erhebt sich ein kleines geflügeltes Kerlchen ein Engelskind darf es freilich nicht genannt werden, denn das Blut eines Kobolds steckt in seinen Adern, und es hat auch das Gemüt eines Kobolds, nicht um dich zu ärgern und dir Verdruss zu bereiten, sondern nur zum Schabernack. Es setzt sich hinter dein Ohr und flüstert dir lustige Einfälle zu, es legt sich in deine Herzgrube und erwärmt dich, dass du recht ausgelassen, der „gute Kopf“ wirst, wie das Urteilsvermögen der anderen Köpfe es nennt.

In dem vierten Glas ist weder Kraut, Vogel noch Kerlchen, in dem Glas ist der Gedankenstrich für den Verstand, und über den Strich darf man nie hinaus!

Nimm das fünfte Glas, und du wirst über dich selber weinen, du wirst so recht innig-vergnüglich gerührt werden, oder es knallt in anderer Weise; aus dem Glas springt mit einem Knall Prinz Karneval, neunfach und über die Maßen lustig. Er zieht dich mit sich fort, du vergisst deine Würde, wenn du eine hast, du vergisst mehr, als du vergessen sollst und darfst. Alles ist Tanz, Sang und Klang. Die Masken reißen dich mit sich fort. Des Teufels Töchter, in Schleier und Seide, kommen, herzen mit aufgelöstem Haar und wunderherrlichen Gliedern – reiße dich los, wenn du es vermagst!

Das sechste Glas – ja, in dem sitzt der Satan selber, ein kleiner, wohl gekleideter, einnehmender, höchst angenehmer Mann, der dich durch und durch begreift, dir Recht in allem gibt, dein ganze zweites Ich ist! Er hat eine Laterne bei sich, um dir zu leichten, wenn er dich nach Hause begleitet. Es gibt eine alte Legende, die vom Heiligen, der eine von den sieben Todsünden wählen sollte und, wie ihm schien, die geringste, die Trunksucht, wählte, in dieser aber alle noch übrigen sechs Sünden beging. Der Mensch und der Teufel vermischten ihr Blut, es ist das sechste Glas, und mit dem treiben alle bösen Keime in unserm Innern – ein jeder erhebt sich mit einer Kraft wie das biblische Senfkorn, wird zum ganzen Baum und breitet sich über die ganze Welt aus, und die meisten Leute haben dann keine andere Wahl, als in den Schmelzofen zu kommen um umgegossen zu werden.

Das ist die Geschichte der Gläser“, sagte der Turmwächter Ole, „und die kann mit Glanzwichse und auch mit Schmiere zum besten gegeben werden, je nach Belieben! Ich gebe sie mit beiden!“

Dritter Besuch

Dieses Mal stieg ich an dem allgemeinen Umzugstag zu Ole hinauf, weil es an dem Tag durchaus nicht angenehm auf den Straßen unten in der Stadt ist; sind sie doch über und über mit Kehricht, Scherben und Überbleibseln aller Art bedeckt, nicht zu reden von dem ausgedienten Bettstroh, in dem man umherwaten muss. Dabei kam ich gerade dazu, wie ein paar Kinder in diesem Schwall von Kehricht umherspielten. Sie spielten „zu Bette gehen“, das Feld schien ihnen recht passend zu diesem Spiele und höchst einladend zu sein, sie verkrochen sich in dem Bettstroh und zogen ein altes Stück zerfetzter Tapete als Deckbett über sich. „Das ist gar zu schön!“ sagten sie; mir war das nun ein bisschen zu stark, und überhaupt musste ich ja fort, musste zu Ole hinauf.

„Es ist heute Umzugstag“, sprach er, „Straßen und Gassen dienen als Kehrichtkübel, als großartige Kehrichtkübel! Mir genügt aber schon ein Wagen voll. Aus dem kann ich schon etwa herauskriegen und ich fand auch manches, einmal kurz nach Weihnachten. Ich ging die Straße hinaus, es war ein raues Wetter, nass, schmutzig, so recht ein Wetter zum Schnupfenholen. Der Kehrichtmann war da mit seiner Karre, die war gefüllt, eine Art Farbkarte der Straßen, wie sie es am Umzugstage sind. Hinten in der Karre stand eine Tanne, noch ganz grün und mit Rauschgold an den Zweigen, die war zwar zum Weihnachtsfest bestimmt gewesen, jetzt aber war sie auf die Straße geworfen und vom Kehrichtmann hinten in der Karre aufgestellt worden. Es war lustig anzusehen oder auch zum Weinen. Es kommt darauf an, was man sich dabei denkt. Ich dachte mir etwas dabei und dachte ganz gewiss auch an dieses und jenes von dem, was auf der Karre lag, oder hätte daran wenigstens denken können, was ja ungefähr dasselbe ist. Da lag auch ein alter Damenhandschuh; was dachte der wohl? Soll ich es Ihnen sagen? Der Handschuh lag dort und zeigte mit dem kleinen Finger gerade auf die Tanne. „Mich jammert der Baum,“ dachte er, „auch ich bin beim Fest mit Kronleuchtern gewesen! Mein eigentliches Leben war eine Ballnacht, ein Händedruck, und ich platzte! Dort bleibt meine Erinnerung stehen, und ich habe weiter nichts, wofür ich leben könnte!“ Das dachte der Handschuh – oder hätte es denken können.

„Das ist dumm mit der Tanne!“ sagten die Scherben. Scherben finden nun alles summ. „Wenn man auf dem Kehrichtkarren ist“, sagten sie, „soll man sich nicht brüsten und Rauschgold tragen. Ich weiß, dass ich in dieser Welt genützt habe, mehr genützt als so ein grüner Stecken!“ Das war nun auch so eine Ansicht, und ich glaube, sie steht nicht gerade allein da. Die Tanne sah doch gut aus, sie war gleichsam ein wenig Poesie auf dem Kehrichthaufen, und wahrlich, Kehricht gibt es in Mengen auf den Straßen am Umzugstage.“ Der Weg wird einen schwer und mühsam, und ich muss dann vorwärts, aus dem Trubel heraus, und wenn ich auf dem Turm bin, muss ich oben bleiben und mit Humor hinabschauen.

Da spielen die lieben Leute unten Häusertausch! Sie schleppen und rackern sich ab mit ihrem Hab und Gut, und der Kobold sitzt im alten Fasse und zieht aus mit ihnen; all die kleinen Leiden der Wohnung und der Familie, die wirkliche Sorgen und der Kummer ziehen mit aus der alten Wohnung in die neue, und was kommt dann für sie und für uns bei der ganzen Geschichte heraus? – Ja, das steht freilich schon längst geschrieben in dem alten, guten Sinnspruch: „Denke an den großen Umzugstag des Todes!“ Das ist ein ernster Gedanken, es ist Ihnen doch nicht unangenehm, dass ich ihn anrege? Der Tod ist und bleibt der zuverlässigste Beamte, und zwar trotz seiner vielen Nebenbeschäftigungen. Ja, der Tod ist Omnibusschaffner, er ist Passschreiber, er bescheinigt unser Führungszeugnis, und er ist Direktor der großen Sparkasse des Lebens. Verstehen Sie? Alle Taten unseres Erdenlebens, große und kleine, legen wir auf diese Sparkasse, und wenn der Tod dann kommt mit seinem Umzugsomnibus und wir steigen ein und müssen mitfahren in das Land der Ewigkeit, dann gibt er uns an der Grenze unser Führungszeugnis als Reisepass. Als Zehrpfennig auf der Reise nimmt er aus der Sparkasse diese oder jene Tat, die wir verübt haben, und gibt sie uns mit. Es kann dies sehr erfreulich, aber auch ganz entsetzlich sein. Noch niemand ist dieser Omnibusfahrt entronnen, man spricht und erzählt freilich von einem, dem es nicht gewährt ward, mitzufahren, dem Ewigen Juden, der musste hinter dem Omnibus einherrennen; hätte man ihm einzusteigen erlaubt, so wäre er der Behandlung durch die Poeten entgangen.

Schau einmal in Gedanken in jeden großen Umzugsomnibus hinein. Die Gesellschaft ist gemischt: König und Bettler, Genie und Idiot sitzen nebeneinander; mit müssen sie, ohne Geld und Gut, nur das Führungszeugnis und den Sparkassenpfennig führen sie mit sich. Doch welche von unseren Taten wird wohl hervorgesucht und uns mitgegeben? Vielleicht eine ganz kleine, eine vergessene, aber doch eingeschriebene, klein wie eine Erbse, aber die Erbse kann eine blühende Ranke treiben. Der arme Tolpatsch, der auf dem niedrigen Schemel im Winkel saß und gepufft und geschimpft wurde, bekommt vielleicht seinen abgenutzten Schemel als Zehrpfennig mit. Der Schemel wird zum Tragesessel ins Land der Ewigkeit, hebt sich dort als Thron empor, strahlend wie Gold, blühend wie eine Laubhütte. Derjenige, der hier auf Erden niemals umherschlenderte und der den Kräutertrank der Vergnügungen schlurfte, damit er das Verkehrte vergäße, das er hier tat, bekommt sein Fässchen mit auf die Reise und muss aus demselben während der Omnibusfahrt trinken, und der Trank ist so rein und klar, so dass die Gedanken sich erhalten, alle guten und edlen Gefühle erweckt werden und er das sieht und empfindet, was er früher nicht sehen mochte oder sehen konnte, und alsdann hat er in seinem Innern die Strafe, den nagenden Wurm, der nicht stirbt in endlosen Zeiten. Stand auf den Gläsern geschrieben Vergessenheit, so steht auf de Fäßchen geschrieben Erinnerung.

Wenn ich ein gutes Buch, eine historische Schrift lese, so muss ich mir stets zuletzt die Person, von der das Buch handelte, und den Omnibus des Todes vorstellen, muss darüber nachdenken, welche von dessen Taten der Tod wohl aus der Sparkasse herausgenommen, welchen Zehrpfennig er ihm mit auf die Reise in die Ewigkeit gegeben haben mag. Es war einmal ein französischer König, ich habe seinen Namen vergessen, der Name guter Leute wird manchmal vergessen, auch von mir, allein er taucht schon wieder auf – es war ein König, der während einer Hungersnot der Wohltäter seines Volkes wurde, und das Volk errichtete ihm ein Monument aus Schnee, mit der Inschrift: „Schneller als dieses schmilzt, brachtest du Hilfe!“ Ich denke mir, dass der Tod ihn nun, im Hinblick auf das Monument, eine einzige Schneeflocke als Zehrpfennig gab, eine Flocke, die nie schmilzt, und diese flog, ein weißer Schmetterling, über seinem königlichen Haupt in das Land der Unsterblichkeit. – So gab es auch einen Ludwig den Elften, ja, seinen Namen habe ich behalten, das Böse behält man schon. Ein Zug seines Charakters kommt mir oft in die Gedanken, ich wollte, man könnte sagen, die Geschichte sei unwahr. Er ließ seinen Oberstallmeister hinrichten, und er konnte ihn hinrichten lassen, mit Recht oder Unrecht, aber er ließ auch die unschuldigen Kinder des Oberstallmeisters, eines von acht, eines von sieben Jahren, auf den Richtplatz bringen und mit dem warmen Blut ihres Vaters bespritzen, ließ sie darauf in die Bastille führen und in eiserne Käfige sperren, woselbst sie nicht einmal eine Decke zum Schutz gegen die Kälte bekamen. Und König Ludwig sandte jede Woche den Henker zu ihnen und ließ jedem einen Zahn ausziehen, damit sie es nicht zu gut hätten. Und der älteste Knabe sagte: „Meine Mutter würde vor Kummer sterben, wenn sie wüsste, dass mein kleiner Bruder so sehr leiden muss, deshalb zieh mir zwei Zähne aus und verschone ihn!“ Dem Henker traten die Tränen in die Augen, allein des Königs Wille war stärken als die Tränen, und jede Woche wurden dem König zwei Kinderzähne auf einem silbernen Teller überbracht. Er hatte sie verlangt, und er bekam sie. Diese zwei Zähne, denke ich mir, nahm der Tod aus der Sparkasse des Lebens und gab sie Ludwig dem Elften mit auf die Reise in das große Land der Unsterblichkeit. Sie fliegen wie zwei Feuerflammen ihm voran, sie leuchten, sie brennen, sie zwacken ihn, die unschuldigen Kinderzähne.

Ja, das ist eine ernste Fahrt, die Omnibusfahrt an dem großen Umzugstag! Und wann muss sie wohl angetreten werden? Das ist eben der Ernst: jeden Tag, jede Stunde, jede Minute muss man den Omnibus erwarten. Welche von unseren Taten wird wohl der Tod aus der Sparkasse herausnehmen und uns mitgeben? – Gedenken wir des Umzugstages, der nicht im Kalender steht.

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ÜbersetzungenDE, EN, ES
Lesbarkeitsindex nach Amstad66.8
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Flesch-Reading-Ease Index52.8
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Gunning Fog Index11.5
Coleman–Liau Index12
SMOG Index12
Automated Readability Index12
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Anzahl der Buchstaben18.576
Anzahl der Sätze166
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