Vorlesezeit für Kinder: 9 min
Achtung: Es handelt sich um eine Grusel-Geschichte.
Es war einmal ein Königssohn, der bekam Lust, in der Welt umherzuziehen, und nahm niemand mit als einen treuen Diener. Eines Tags geriet er in einen großen Wald, und als der Abend kam, konnte er keine Herberge finden und wusste nicht, wo er die Nacht zubringen sollte. Da sah er ein Mädchen, das nach einem kleinen Häuschen zuging, und als er näher kam, sah er, dass das Mädchen jung und schön war.
Er redete es an und sprach „liebes Kind, kann ich und mein Diener in dem Häuschen für die Nacht ein Unterkommen finden?“ – „Ach ja,“ sagte das Mädchen mit trauriger Stimme, „das könnt ihr wohl, aber ich rate euch nicht dazu; geht nicht hinein.“ – „Warum soll ich nicht?“ fragte der Königssohn. Das Mädchen seufzte und sprach „meine Stiefmutter treibt böse Künste, sie meint’s nicht gut mit den Fremden.“
Da merkte er wohl, dass er zu dem Hause einer Hexe gekommen war, doch weil es finster ward und er nicht weiter konnte, sich auch nicht fürchtete, so trat er ein. Die Alte saß auf einem Lehnstuhl beim Feuer und sah mit ihren roten Augen die Fremden an. „Guten Abend,“ schnarrte sie und tat ganz freundlich, „lasst euch nieder und ruht euch aus.“ Sie blies die Kohlen an, bei welchen sie in einem kleinen Topf etwas kochte. Die Tochter warnte die beiden, vorsichtig zu sein, nichts zu essen und nichts zu trinken, denn die Alte braue böse Getränke.
Sie schliefen ruhig bis zum frühen Morgen. Als sie sich zur Abreise fertig machten und der Königssohn schon zu Pferde saß, sprach die Alte „warte einen Augenblick, ich will euch erst einen Abschiedstrank reichen.“ Während sie ihn holte, ritt der Königssohn fort, und der Diener, der seinen Sattel festschnallen musste, war allein noch zugegen, als die böse Hexe mit dem Trank kam.
„Das bring deinem Herrn,“ sagte sie, aber in dem Augenblick sprang das Glas, und das Gift spritzte auf das Pferd, und war so heftig, dass das Tier gleich tot hinstürzte. Der Diener lief seinem Herrn nach und erzählte ihm, was geschehen war, wollte aber den Sattel nicht im Stich lassen und lief zurück, um ihn zu holen. Wie er aber zu dem toten Pferde kam, saß schon ein Rabe darauf und fraß davon. „Wer weiß, ob wir heute noch etwas Besseres finden,“ sagte der Diener, tötete den Raben und nahm ihn mit.
Nun zogen sie in dem Walde den ganzen Tag weiter, konnten aber nicht herauskommen. Bei Anbruch der Nacht fanden sie ein Wirtshaus und gingen hinein. Der Diener gab dem Wirt den Raben, den er zum Abendessen bereiten sollte. Sie waren aber in eine Mördergrube geraten, und in der Dunkelheit kamen zwölf Mörder und wollten die Fremden umbringen und berauben. Ehe sie sich aber ans Werk machten, setzten sie sich zu Tisch, und der Wirt und die Hexe setzten sich zu ihnen, und sie aßen zusammen eine Schüssel mit Suppe, in die das Fleisch des Raben gehackt war.
Kaum aber hatten sie ein paar Bissen hinuntergeschluckt, so fielen sie alle tot nieder, denn dem Raben hatte sich das Gift von dem Pferdefleisch mitgeteilt. Es war nun niemand mehr im Hause übrig als die Tochter des Wirts, die es redlich meinte und an den gottlosen Dingen keinen Teil genommen hatte. Sie öffnete dem Fremden alle Türen und zeigte ihm die angehäuften Schätze. Der Königssohn aber sagte, sie möchte alles behalten, er wollte nichts davon, und ritt mit seinem Diener weiter.
Nachdem sie lange herumgezogen waren, kamen sie in eine Stadt, worin eine schöne, aber übermütige Königstochter war, die hatte bekanntmachen lassen, wer ihr ein Rätsel vorlegte, das sie nicht erraten könnte, der sollte ihr Gemahl werden: erriete sie es aber, so müsste er sich das Haupt abschlagen lassen. Drei Tage hatte sie Zeit, sich zu besinnen, sie war aber so klug, dass sie immer die vorgelegten Rätsel vor der bestimmten Zeit erriet. Schon waren neune auf diese Weise umgekommen, als der Königssohn anlangte und, von ihrer großen Schönheit geblendet, sein Leben daransetzen wollte.
Da trat er vor sie hin und gab ihr sein Rätsel auf, „was ist das,“ sagte er, „einer schlug keinen und schlug doch zwölf.“ Sie wusste nicht, was das war, sie sann und sann, aber sie brachte es nicht heraus: sie schlug ihre Rätselbücher auf, aber es stand nicht darin: kurz, ihre Weisheit war zu Ende.
Da sie sich nicht zu helfen wusste, befahl sie ihrer Magd, in das Schlafgemach des Herrn zu schleichen, da sollte sie seine Träume behorchen, und dachte, er rede vielleicht im Schlaf und verrate das Rätsel. Aber der kluge Diener hatte sich statt des Herrn ins Bett gelegt, und als die Magd herankam, riss er ihr den Mantel ab, in den sie sich verhüllt hatte, und jagte sie mit Ruten hinaus.
In der zweiten Nacht schickte die Königstochter ihre Kammerjungfer, die sollte sehen, ob es ihr mit Horchen besser glückte, aber der Diener nahm auch ihr den Mantel weg und jagte sie mit Ruten hinaus. Nun glaubte der Herr für die dritte Nacht sicher zu sein und legte sich in sein Bett, da kam die Königstochter selbst, hatte einen nebelgrauen Mantel umgetan und setzte sich neben ihn. Und als sie dachte, er schliefe und träumte, so redete sie ihn an und hoffte, er werde im Traum antworten, wie viele tun.
Aber er war wach und verstand und hörte alles sehr wohl. Da fragte sie „einer schlug keinen, was ist das?“ Er antwortete „ein Rabe, der von einem toten und vergifteten Pferde fraß und davon starb.“ Weiter fragte sie „und schlug doch zwölf, was ist das?“ – „Das sind zwölf Mörder, die den Raben verzehrten und daran starben.“
Als sie das Rätsel wusste, wollte sie sich fortschleichen, aber er hielt ihren Mantel fest, dass sie ihn zurücklassen musste. Am anderen Morgen verkündigte die Königstochter, sie habe das Rätsel erraten, und ließ die zwölf Richter kommen und löste es vor ihnen. Aber der Jüngling bat sich Gehör aus und sagte ’sie ist in der Nacht zu mir geschlichen und hat mich ausgefragt, denn sonst hätte sie es nicht erraten.“
Die Richter sprachen „bringt uns ein Wahrzeichen.“ Da wurden die drei Mäntel von dem Diener herbeigebracht, und als die Richter den nebelgrauen erblickten, den die Königstochter zu tragen pflegte, so sagten sie „lasst den Mantel sticken mit Gold und Silber, so wird’s Euer Hochzeitsmantel sein.“
Hintergründe zum Märchen „Das Rätsel“
„Das Rätsel“ (KHM 22) von den Gebrüdern Grimm ist ein Märchen mit Elementen von Schwank und Abenteuer, das in der Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“ erschienen ist. Das Märchen beinhaltet mehrere Hintergründe und Themen, die von kulturellen Bräuchen bis hin zu menschlichen Beziehungen reichen. Hier sind einige Hintergründe zum Märchen:
Das Märchen stammt aus Zwehrn, vermutlich von Dorothea Viehmann, einer der Hauptquellen für die Geschichten der Brüder Grimm. Es gibt verschiedene Varianten der Geschichte, die in anderen Märchen oder literarischen Werken auftauchen, wie zum Beispiel in „Turandot“ oder „Der Wandergeselle“ von Ludwig Bechstein. Das Rätselraten im Märchen ist auf einen alten Hochzeitsbrauch zurückzuführen, bei dem Rätsel als eine Art Freierprobe oder Reifungsweihe dienten. Ähnliche Motive finden sich auch in anderen literarischen und mythologischen Werken wie dem Alvíssmál aus der Edda, der Geschichte des Apollonius von Tyrus und dem Bibelvers Ri 14,14.
Die Figur der rätselverliebten Königstochter ist ein wiederkehrendes Motiv in Märchen und anderen Geschichten. Sie steht für eine weibliche Persönlichkeit, die durch ihre Intelligenz und Klugheit herausfordert und anzieht. Die Begegnung mit dem Prinzen führt sie dazu, sich zum ersten Mal wirklich mit einem anderen Menschen zu beschäftigen, anstatt nur ihren Verstand und ihre Rätsel zu nutzen, um andere auf Distanz zu halten. Das Thema Betrug spielt eine zentrale Rolle in der Geschichte, da die Prinzessin versucht, die Lösung des Rätsels durch unlautere Mittel zu erlangen. Am Ende wird sie jedoch des Betrugs angeklagt, und die Gerechtigkeit siegt, als der Prinz sie trotzdem heiraten darf.
Die Geschichte bietet auch eine Reihe von Interpretationsmöglichkeiten in Bezug auf menschliche Beziehungen, Nähe und Abwehr, wie zum Beispiel die ambivalente Haltung der Prinzessin gegenüber dem Prinzen oder die Darstellung der zwölf Richter, die eine gerechte Entscheidung treffen müssen. Insgesamt ist „Das Rätsel“ ein faszinierendes Märchen, das nicht nur eine spannende Handlung bietet, sondern auch tiefe Einblicke in menschliche Beziehungen, kulturelle Bräuche und historische Hintergründe.
Interpretationen zum Märchen „Das Rätsel“
Das Märchen „Das Rätsel“ (KHM 22) von den Gebrüdern Grimm enthält verschiedene Themen und Motive, die unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten bieten. Hier sind einige Interpretationen:
Persönliches Wachstum und menschliche Beziehungen: Die Geschichte zeigt, wie die rätselverliebte Prinzessin durch ihre Begegnung mit dem Prinzen lernt, sich auf eine persönliche Ebene mit einem anderen Menschen auseinanderzusetzen. Anstatt sich hinter Rätseln zu verstecken, öffnet sie sich und wird letztendlich dafür belohnt, indem sie den Prinzen heiratet. Diese Entwicklung kann als eine Darstellung des persönlichen Wachstums und der Wichtigkeit von zwischenmenschlichen Beziehungen verstanden werden.
Klugheit und Betrug: Die Prinzessin versucht, die Lösung des Rätsels durch Täuschung zu erlangen. Obwohl sie klug ist, zeigt diese Handlung, dass sie auch bereit ist, unlautere Mittel einzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Die Tatsache, dass der Prinz sie des Betrugs anklagt und sie am Ende heiraten darf, zeigt die Triumph der Ehrlichkeit und Gerechtigkeit über List und Täuschung.
Rätsel und Macht: Die Prinzessin nutzt ihre Fähigkeit, Rätsel zu lösen, als eine Form der Macht und Kontrolle über andere. Indem sie ihre möglichen Freier dazu herausfordert, ihr unlösbare Rätsel zu präsentieren, behält sie die Oberhand und schützt sich vor unerwünschten Bewerbern. Die Begegnung mit dem Prinzen zeigt jedoch, dass Macht und Kontrolle ihre Grenzen haben und dass wahre menschliche Beziehungen auf Vertrauen und Offenheit basieren müssen.
Hochzeitsbräuche und Freierproben: Das Märchen kann auch als ein Einblick in historische Hochzeitsbräuche und Freierproben interpretiert werden. Die Verwendung von Rätseln in solchen Zusammenhängen zeigt, wie Klugheit und Wissen als wünschenswerte Eigenschaften angesehen wurden, die in einer Ehe wichtig sind.
Psychoanalytische Interpretation: Die Handlungen und Motive der Prinzessin können aus einer psychoanalytischen Perspektive betrachtet werden. Ihr Versuch, Nähe durch Rätsel abzuwehren, könnte als eine Form der Abwehr oder Verdrängung von Sehnsüchten interpretiert werden. Zugleich könnten ihre Bemühungen, das Rätsel durch Betrug zu lösen, als Ausdruck von Vernichtungsängsten verstanden werden, die sich aus dem Ödipuskomplex ergeben.
Insgesamt bieten die Themen und Motive in „Das Rätsel“ eine Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten, die das Märchen sowohl kulturell als auch psychologisch interessant machen.
Adaptionen zum Märchen „Das Rätsel“
Obwohl „Das Rätsel“ (KHM 22) von den Gebrüdern Grimm nicht so bekannt ist wie einige ihrer anderen Märchen, gibt es dennoch einige Adaptionen und Beispiele, die von diesem Märchen inspiriert wurden:
Theaterstücke: „Das Rätsel“ wurde als Theaterstück für Kinder adaptiert und von verschiedenen Theatergruppen aufgeführt. Ein Beispiel ist die Adaption von Bernd Gombold, die für die Bühne konzipiert wurde und das Märchen für ein junges Publikum neu interpretiert.
Hörspiele und Hörbücher: Es gibt verschiedene Hörspielproduktionen, die das Märchen „Das Rätsel“ für Kinder und Erwachsene adaptiert haben. Beispielsweise hat der deutsche Hörspielverlag EUROPA eine Hörspielfassung des Märchens veröffentlicht, die Teil der „Märchenbox“ ist, die verschiedene Märchen der Gebrüder Grimm enthält.
Fernsehproduktionen: Das Märchen „Das Rätsel“ wurde auch für das Fernsehen adaptiert, unter anderem als Teil der deutschen TV-Reihe „Grimms Märchen“ (1980) in der Episode „Das Rätsel“.
Literaturadaptionen: Es gibt einige literarische Adaptionen und Neuerzählungen des Märchens „Das Rätsel“. Zum Beispiel hat die Autorin Gudrun Pausewang das Märchen in ihrer Sammlung „Die schönsten Märchen der Brüder Grimm“ neu erzählt und dabei einige Aspekte des Originals modernisiert.
Illustrationen: Im Laufe der Jahre haben verschiedene Künstler Illustrationen zum Märchen „Das Rätsel“ geschaffen, die die verschiedenen Szenen und Charaktere des Märchens zum Leben erwecken. Zum Beispiel hat Otto Ubbelohde mehrere Illustrationen zum Märchen geschaffen, die sowohl die Spannung als auch die Romantik der Geschichte einfangen.
Trotz seiner eher unbekannten Stellung im Grimm’schen Märchenkanon hat „Das Rätsel“ dennoch einige interessante Adaptionen und Umsetzungen erfahren, die den Geist des Originals auf verschiedene Weise neu interpretieren und zum Leben erwecken.
Zusammenfassung der Handlung
„Das Rätsel“ (KHM 22) von den Gebrüdern Grimm erzählt die Geschichte eines Königssohns und seines Dieners, die auf ihrer Reise Abenteuer erleben und schließlich eine rätselverliebte Königstochter treffen. Auf ihrer Reise kommen sie zu einem einsamen Haus, in dem eine böse Hexe und ihre schöne Stieftochter leben. Die Stieftochter warnt den Prinzen, nichts von der Hexe anzunehmen. Trotzdem verfolgt die Hexe den Prinzen und versucht, ihm ein vergiftetes Getränk zu geben. Der Prinz entkommt, aber sein Diener nimmt einen Raben, der vom vergifteten Pferd fraß und daran starb, als Verpflegung mit.
Die beiden finden eine Herberge, die sich als Mördergrube entpuppt. Die Mörder, die Hexe und der Gastwirt essen eine Suppe aus dem vergifteten Raben und sterben alle an dem Gift. Prinz und Diener ziehen weiter und kommen in eine Stadt, in der eine rätselverliebte Königstochter lebt. Die Prinzessin gibt jedem Werber die Chance, sie zu heiraten, indem er ihr ein Rätsel stellt, das sie nicht lösen kann. Scheitert der Werber, wird er getötet.
Der Prinz stellt ihr das Rätsel: „Was ist das […] einer schlug keinen und schlug doch zwölfe?“ Die Prinzessin versucht dreimal, die Lösung durch Betrug herauszufinden, scheitert aber jedes Mal. Schließlich verrät der Prinz ihr die Lösung und nimmt ihr den Mantel als Beweis für ihren Betrug. Die Lösung des Rätsels lautet: Der Rabe, der keinen schlug und doch zwölf Mörder tötete, indem sie ihn aßen und am Gift starben. Vor Gericht zeigt der Prinz die Mäntel als Beweise für den Betrug der Prinzessin. Die Richter entscheiden, dass der Prinz die Prinzessin heiraten darf, und so endet das Märchen mit der Hochzeit der beiden.
Informationen für wissenschaftliche Analysen
Kennzahl | Wert |
---|---|
Nummer | KHM 22 |
Aarne-Thompson-Uther-Index | ATU Typ 851 |
Übersetzungen | DE, EN, DA, ES, PT, IT, JA, NL, PL, RU, TR, VI, ZH |
Lesbarkeitsindex nach Amstad | 71.2 |
Lesbarkeitsindex nach Björnsson | 35.9 |
Flesch-Reading-Ease Index | 58.7 |
Flesch–Kincaid Grade-Level | 10.4 |
Gunning Fog Index | 10.8 |
Coleman–Liau Index | 11.5 |
SMOG Index | 11.3 |
Automated Readability Index | 11.1 |
Zeichen-Anzahl | 6.163 |
Anzahl der Buchstaben | 4.859 |
Anzahl der Sätze | 49 |
Wortanzahl | 1.048 |
Durchschnittliche Wörter pro Satz | 21,39 |
Wörter mit mehr als 6 Buchstaben | 152 |
Prozentualer Anteil von langen Wörtern | 14.5% |
Silben gesamt | 1.566 |
Durchschnittliche Silben pro Wort | 1,49 |
Wörter mit drei Silben | 96 |
Prozentualer Anteil von Wörtern mit drei Silben | 9.2% |